Flüchtlinge in Bonn So weit die Füße tragen

Die Flucht geht um den halben Globus, durch Wälder und Wüsten, über Schnee und Meer, und der nächste Tag ist ungewiss. Irgendwann nach Monaten erreichen sie - reiner Zufall - Bonn. Zwei Flüchtlingsschicksale, zwei individuelle Geschichten. Doch alle eint die Gewalt in der Heimat und die Angst ums Überleben.

 Flucht aus dem Teufelsstaat Syrien, vor Bomben, menschenverachtenden Zuständen und dem Terror des Islamischen Staats: Kein Zaun hält die verzweifelten Menschen auf, auch nicht dieser an der türkisch-syrischen Grenze.

Flucht aus dem Teufelsstaat Syrien, vor Bomben, menschenverachtenden Zuständen und dem Terror des Islamischen Staats: Kein Zaun hält die verzweifelten Menschen auf, auch nicht dieser an der türkisch-syrischen Grenze.

Foto: Bulent Kilic/AFP

POPPELSDORF. Safayet ist 18 Jahre alt. Ein Brief an ein Mädchen wurde ihm zum Verhängnis. "Sie mochte mich und ich mochte sie", sagt der junge Mann aus Bangladesch, während er in einem Café in Poppelsdorf sitzt. Seit März lebt er im Paulusheim. Noch weiß er nicht, ob sein Asylantrag bewilligt wird und er in Deutschland bleiben darf. Er erzählt in gebrochenem Englisch, aber mit entschlossenem Blick. In einer Hand hält er seine Tasse, die andere liegt auf seinem Rucksack. Darin sind Briefe von deutschen Behörden, Dokumente, Papiere - Hoffnung im DIN-A4-Format.

Nasma, so der Name des Mädchens, war Safayets Cousine. Eines Tages fiel ihrem Vater ein Brief von Safayet in die Hände. "Er hat unsere Beziehung nicht geduldet", sagt er. Sein Onkel habe verlangt, dass er sofort das Haus verlasse. Es war die letzte Zuflucht, die ihm noch geblieben war. Ohne zu wissen wohin, ging er los, zu Fuß, immer Richtung Westen.

Safayets Geschichte beginnt in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Sein Vater arbeitete in der 15-Millionen-Stadt als Wachmann für eine Textilfabrik. "Eine gute Arbeit", sagt Safayet. Der Job verschaffte seiner Familie ein Zuhause auf dem Werksgelände und ihm die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Als Safayet 14 war, habe sich sich sein Leben allerdings von einem Tag auf den anderen geändert, erzählt er. Beide Eltern sterben bei einem Zugunglück. Ohne die Arbeit des Vaters verliert der Junge alles: sein Zuhause und seine Schule, deren Gebühr die Fabrik nun nicht mehr zahlt. Um zu überleben, schloss sich Safayet anderen jungen Männer an, die ihre Dienste abwechselnd den verfeindeten politischen Gruppen der "Bangladesh Awami League" (BAL) und der "Bangladesh National Party"(BNP) anboten: Sie bekamen Geld, um die Versammlung der jeweils anderen Partei zu stören.

"Wir liefen acht Tage lang durch den Wald, immer nur nachts"

Doch irgendwann geriet Safayet zwischen die Fronten. Er wird bedroht, muss aus dem Land flüchten. "Die Polizei in Bangladesch kann dich einfach verschwinden lassen, wenn sie das will", sagt Safayet. So kam er zu seinem Onkel, der nahe der Grenze zu Indien wohnt. "Als er mich hinausgeworfen hat, war ich verzweifelt", erinnert sich Safayet. Zurück nach Bangladesch konnte er nicht, also entschied er sich, nach Pakistan zu gehen. Auf dem Weg lernte er andere Menschen kennen, Vertriebene, Heimatlose wie er selbst. Safayet schloss sich ihnen an, teilte das Essen mit ihnen und die Schlafplätze. Mit Bussen und Zügen, meistens aber zu Fuß durchquerten sie Land um Land. "Manchmal wussten wir nicht, wo wir gerade waren", sagt Safayet. Heute kennt er die Route: Afghanistan, Iran, Irak, Türkei, Bulgarien.

"Serbien werde ich nie vergessen", sagt Safayet. Es war Winter, als seine Gruppe mit etwa 20 Personen in Richtung der ungarischen Grenze marschierte. "Wir liefen acht Tage lang durch den Wald, immer nur nachts. Der Schnee stand uns bis zu den Knien." Safayet wurde krank. Trotzdem schaffte er es, sich über die Grenze zu schleppen. In Ungarn trafen sie auf Polizisten. Medizin und ausreichend Essen habe er nicht bekommen, nur Fingerabdrücke wurden gemacht. Dann durften sie gehen.

Nach sechs Monaten in Österreich

Sechs Monate nach seinem Aufbruch in Indien erreichte Safayet Österreich. Bekannte vermittelten ihm einen Kontakt nach Deutschland. "Ich wusste nicht, was mich erwarten würde", erzählt Safayet. An einem Bahnhof in einer süddeutschen Stadt - welche? daran erinnert er sich nicht mehr - läuft er wieder Polizisten in die Arme. Wieder Fingerabdrücke; doch was dann passiert, war für ihn überraschend. "Ich wurde in eine Unterkunft gebracht. Man hat mich gefragt, wie es mir geht, ich habe Essen bekommen. Dann durfte ich mich in ein Bett legen. Die deutsche Polizei hat mir geholfen."

Im März schließlich bezog Safayet ein Zimmer im Paulusheim. Er sagt: "Ich möchte gerne bleiben, ich bin stark und kann arbeiten." Vermisst er seine Heimat nicht? "Oft denke ich an Nasma, aber zurück kann ich nicht", sagt er. Als nächstes möchte er schnell Deutsch lernen. Freunde hat er bereits gefunden. "In Bonn leben einige Menschen aus Bangladesch", so Safayet. Er liebt Bollywoodfilme, Musik und das Tanzen. Einmal in der Woche besucht er die Moschee. "Mein Lieblingsplatz ist die Rheinaue", sagt er. "Ich stehe früh auf und komme manchmal erst am Abend wieder. Ich bin immer unterwegs."

ENDENICH. Nachts, wenn seine Familie schläft, liegt Theepan oft noch lange wach. Das Zimmer, das sich der Mann aus Sri Lanka mit seiner Frau Gowry und seinen beiden kleinen Töchtern im Endenicher Paulusheim teilt, ist klein; aber das sei nicht das Problem, sagt Theepan. Wenn er die zweijährige Rishikaa und ihre zwei Monate alte Schwester Anika in ihren Betten leise atmen hört, dann weiß er: Sie sind in Sicherheit. Was ihn nicht schlafen lässt, ist die Angst vor der ungewissen Zukunft. Sie kommt, wenn es dunkel wird. "Dann beginne ich meine Stärke und Zuversicht zu verlieren", sagt Thepaan. Der 35-Jährige blickt durch seine schmale Brille zum Klettergerüst, auf dem seine Tochter spielt. Er lächelt viel und häufig, wenn er erzählt. Jetzt gerade allerdings will es ihm nicht gelingen.

Genau ein Jahr ist es her, dass das Ehepaar die Entscheidung getroffen hat, aus dem Inselstaat vor der südlichen Spitze Indiens zu flüchten. Die Familie gehört zur Volksgruppe der Tamilen. Fast drei Jahrzehnte lang befand sich die in Sri Lanka lebende Minderheit in einem Bürgerkrieg mit der mehrheitlich singhalesischen Bevölkerung. Bis zur Zerschlagung der tamilischen Rebellenarmee 2009 fielen dem ethnischen Konflikt bis zu 100.000 Menschen zum Opfer. Es gab Guerillakämpfe und Bombardierungen, aber auch Massentötungen, Selbstmordanschläge und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Jugendlichen. Alles hat bis heute einen tiefen Riss in der Gesellschaft hinterlassen. Obwohl offiziell der "Friede" erklärt worden sei, sagt Theepan, flamme der Hass immer wieder auf. Er bekam das am eigenen Leibe zu spüren. Auf die Frage, was er während der Kriegsjahre erlebt habe, sagt er nicht viel. Nur: "Ich habe alles gesehen."

Ein eigenes Haus mit Garten

Theepan und seine Frau Gowry haben geschafft, was für Tamilen in Sri Lanka sehr schwierig ist: Sie haben die Universität besucht. Er hat einen Abschluss in Sozialwissenschaft, Statistik und Computerwissenschaft und einen weiteren in Wirtschaftswissenschaft. Sie hat einen Abschluss in den Bereichen Management Accounting und Controlling. Zuletzt arbeitete die ebenfalls 35 Jahre alte Gowry als Buchhalterin, Theepan als Statistik-Dozent. Von ihren Gehältern kauften sie sich ein eigenes Haus mit Garten. Aber, sagt Theepan: "Geld ist nichts wert, wenn du um dein Leben fürchten musst." An einem Tag im August wird er von einer Einheit des Militärs festgenommen. Die Soldaten foltern ihn. Theepan soll gestehen, dass er ein tamilischer Terrorist sei. Doch das kann er nicht. Er war kein Kämpfer, geschweige denn ein Attentäter. Die Soldaten schlagen und treten ihn. Er verliert beide Schneidezähne. Sie lassen ihn gehen - und drohen an, wiederzukommen.

Die jungen Eltern sammelten alle ihre Ersparnisse zusammen, verkauften, was sie nicht mehr brauchten, um das Land verlassen zu können. Die "Agentur", die sie aus dem Land schmuggeln sollte, forderte umgerechnet 40.000 Euro. Selbst für gut ausgebildete Menschen wie Theepan und Gowry ist das in Sri Lanka ein Vermögen. "Am Ende mussten wir uns noch zusätzlich Geld leihen", sagt Gowry.

"Es gibt wenigstens Gesetze und einen funktionierenden Staat"

Ein Flugzeug brachte sie außer Landes. Sie haben ihre Familien, ihr Haus, ihre Arbeit und den Tempel, indem die gläubigen Hindus zum Beten hingehen konnten, hinter sich gelassen. Wohin ihre Flucht sie führen würde, wussten sie bis zuletzt nicht. Klar war nur das Ziel: Europa. Als sie in Deutschland ankamen, war es Januar. Es war Nacht und kalt. Seit Februar wohnt die Familie im Paulusheim. "Uns fehlt nichts", sagt Gowry. "Als das Baby da war, haben wir sogar schnell einen Kinderwagen bekommen."

Obwohl der Familie in Bonn nichts fehlt, vermissen sie doch vieles. "Am meisten vermisse ich es, einfach Bekannte auf der Straße zu treffen, mich zu unterhalten", sagt Theepan. "Mir fehlt die Gemeinschaft." In Deutschland haben sie niemanden, an denen sie sich wenden konnten, keine Bekannten oder Freunde. Umso mehr ist das Ehepaar den Helfern dankbar. "Die Menschen sind unglaublich nett."

Doch wissen sie auch, dass es in Deutschland Menschen gibt, die Flüchtlinge nicht willkommen heißen und sogar Steine werfen. "Ich habe keine Angst. Böse Menschen kenne ich doch aus Sri Lanka, aber hier gibt es wenigstens Gesetze und einen funktionierenden Staat." Theepan hofft, dass sich die Lage in seiner Heimat verbessert und er mit Familie zurückkehren kann. "Wann das sein wird, weiß ich nicht."

Bis zur Geburt ihres Kindes vor zwei Monaten besuchte das Ehepaar täglich einen Deutschkurs. Im Moment geht Theepan alleine, weil sich Gowry um die kleine Anika kümmert. Er möchte die fremde Sprache so schnell es geht lernen, um möglichst bald eine neue Arbeit zu finden. Die Untätigkeit in einem fremden Land sei für ihn kaum auszuhalten. "Irgendetwas studieren und dann mal sehen, welchen Beruf man ergreift? Das gibt es bei uns nicht", sagt Theepan. Regelmäßig musste er sich vor seinen Eltern rechtfertigen, die seine Leistungen kontrollierten. Vielleicht ist das der Grund für einen Satz, den Theepan im Gespräch wieder und wieder sagt: "Ich möchte für dieses Land keine Last sein." Seine Hoffnung ist, bei einem deutschen Unternehmen eine Arbeitsstelle zu finden. Wenn seine Kinder bereits schlafen und er den kreisenden Gedanken entfliehen versucht, setzt er sich an den Tisch und liest in den Deutsch-Lehrbüchern. "Ich weiß, Sprache ist der Schlüssel."

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