Interview mit der Alfterer Kita-Leiterin "Auch soziale Armut nimmt zu"

Alfter · Schlechtere Entwicklungschancen, weniger Teilhabe: 20.000 Kinder und Jugendliche in der Region sind von Armut betroffen, hat eine Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt (Awo) und des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik gezeigt. Das wird bereits in der Kita deutlich. Ein Gespräch mit Heike von Schledorn, Leiterin des Awo-Kindergartens Sonnenblume in Alfter-Oedekoven.

 Armut ist nicht allein eine Frage des Geldes, weiß Heike von Schledorn.

Armut ist nicht allein eine Frage des Geldes, weiß Heike von Schledorn.

Foto: Hannah Schmitt

Arm ist, wer kein Geld hat, heißt es häufig. Kann man Armut darauf beschränken?
Heike von Schledorn: Ich würde das Problem nicht nur auf finanzieller Ebene sehen. Ich bin seit 30 Jahren als Erzieherin tätig und stelle fest, dass auch die soziale Armut und Verwahrlosung immer mehr zunehmen. Die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbringen, wird weniger. Die Eltern sind gezwungen, viel zu arbeiten. Das ist auch bei den immer mehr werdenden Alleinerziehenden zu beobachten. Ein weiterer Grund für wenig gemeinsame Zeit mit den Kindern sind Probleme und schwere Erkrankungen der Eltern.

Also kann es auch Kinder gut situierter Eltern treffen?
Von Schledorn: Ja, soziale Verarmung ist auch bei besser gestellten Menschen zu beobachten.

Wie zeigt sich die Kinderarmut im Alltag der Kita?
Von Schledorn: Viele Eltern haben keine Zeit für Elternabende oder Entwicklungsgespräche über ihre Kinder. Die materielle Armut zeigt sich an der Kleidung, die die Kinder nicht haben. In der Kita sollte jedes Kind eine Regenjacke und -hose haben. Wir haben aber immer mehr Familien, die dafür kein Geld besitzen. Auch beim Essen wird das deutlich. Wir haben ein Frühstücksbüfett. Einmal in der Woche sagen wir den Eltern, was sie in der kommenden Woche mitbringen sollen. Für manche ist es schwierig, wenn sie zum Beispiel zwei Wochen hintereinander an der Reihe sind.

Ist den Kindern in dem Alter bewusst, dass sie arm sind?
Von Schledorn: Den Kindern fällt das noch nicht auf. Höchstens bei Markensachen, also wenn sie bestimmte Schuhe nicht haben oder nur gebrauchte bekommen. Gerade im Kindergarten ist das Umfeld ja für alle gleich. Alle werden gleich behandelt. Aber wir Erzieher merken es an den Mengen, die einige Mädchen und Jungen essen. Besonders beim Nachmittagssnack. Da merkt man, dass er für viele wohl die letzte große Mahlzeit des Tages ist.

Wie hoch ist der Anteil armer Kinder in Ihrer Kita?
Von Schledorn: Wenn wir soziale und materielle Armut zusammenzählen, ist der Anteil relativ hoch und liegt bei etwa 40 Prozent. Für uns Erzieher ist die Situation sehr schwierig und anders als früher. Vor allem auch die Dinge aufzufangen, die früher noch in der Verantwortung der Eltern lagen. Inzwischen haben viele Eltern die Erwartungshaltung: Die Kita macht das ja. Andere haben hingegen nicht den nötigen Hintergrund, alles leisten zu können, was in ihrer Verantwortung liegen würde.

Kann überhaupt jeder Fall entdeckt werden? Oder geht auch viel am Kindergarten vorbei?
Von Schledorn: Mit Sicherheit gibt es Familien, bei denen man es nicht mitbekommt. Wir hatten zum Beispiel ein Kind aus einer Akademikerfamilie, das erst mit viereinhalb Jahren in die Kita gekommen ist und auch nur unregelmäßig kam. Natürlich erreichen wir ein Kind in einer solchen Situation weniger, und Probleme in der Schule sind durchaus nicht ausgeschlossen. Beispielsweise, weil es nicht ausreichend lernen konnte, sich in sozialen Strukturen zurechtzufinden. Deshalb sollte es meiner Meinung nach ab drei Jahren eine Kindergartenpflicht geben. Gleiche Bildungschancen von Anfang an wären so besser für alle sicherzustellen.

Apropos gleiche Bildungschancen. Was macht denn der Kindergarten gegen Kinderarmut?
Von Schledorn: Wir ermöglichen den Kindern einen geregelten Tagesablauf und öffnen alle Bildungsbereiche für sie. Zudem wird das Leben in einer sozialen Gemeinschaft gefördert. Denn viele Mädchen und Jungen haben heute keine Geschwister. Wir kümmern uns auch um Basiskompetenzen wie Körperhygiene oder dass die Kinder lernen sich anzuziehen.

Die Studie der Awo hat den Titel "Von alleine wächst sich nichts aus". Heißt das plakativ: Einmal arm, immer arm?
Von Schledorn: Das hängt von der Politik, dem sozialen Umfeld und vor allem der Initiative der Eltern ab, um dem Kind viel zu ermöglichen. Da gehört dann auch Mut der Eltern dazu, sich gegen den Strom zu stellen. Ich kenne eine Mutter, die klar gesagt hat: Während die Kinder klein sind, lebe ich vom Sozialamt und versuche dafür, viel Zeit für sie zu haben. Heute wird es den Eltern sehr schwer gemacht, nach einer längeren Auszeit wieder in den Job zurückzukommen.

Was müsste denn die Politik Ihrer Meinung nach tun?
Von Schledorn: Das ist eine gute Frage. Bei der Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets könnte offensichtlich werden, dass manche Menschen sich Dinge nicht leisten können. Einige schämen sich dafür und nehmen es deshalb nicht an. Und viele Verfahren sind einfach viel zu aufwendig. Das müsste alles transparenter werden. Ich treffe auch immer noch Familien an, die vom Bildungs- und Teilhabepaket nichts wissen. Dann gibt es wiederum welche, die darauf keinen Anspruch haben, obwohl sie es aus meiner Sicht gebrauchen könnten.

Langzeitstudie Kinderarmut

Die Langzeitstudie zu "Lebenslagen, Lebensverlauf und Zukunftschancen von (armen) Kindern" startete 1997. Bundesweit wurden die Daten von rund 1000 Kindern über einen Zeitraum von 15 Jahren gesammelt. Sie spiegeln die Situation von der Kita bis zum Ende der Sekundarstufe I wider. Die Untersuchungen der Folgen von Armut auf die Entwicklung dieser Kinder ergaben, dass das Einkommen und der Bildungshintergrund der Eltern sowie die Familienform, in der das Kind aufwächst, entscheidende Faktoren sind. Eine weitere Erkenntnis: Um Armut zu verhindern, müssten Eltern über sichere Arbeit verfügen sowie Betreuungs- und Bildungsangebote für ihre Kinder nutzen können.

Zur Person

Heike von Schledorn ist 49 Jahre alt und lebt in Bornheim. Seit sieben Jahren ist sie Leiterin der Awo-Kita Sonnenblume in Alfter-Oedekoven; bereits seit 30 Jahren ist sie Erzieherin. Bei der Vorstellung der Studie der Awo und des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt berichtete sie über ihre Erfahrungen mit Kinderarmut.

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