Interview mit Marcelo da Veiga, Rektor der Alanus Hochschule "Es ist wichtig, kein Mainstream zu werden"

Seit 13 Jahren ist Professor Marcelo da Veiga Gründungsrektor der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Im Januar hat deren Senat seine Amtszeit erneut verlängert. Wolfgang Pichler befragte ihn darüber, was er in den kommenden drei Jahren vorhat.

Gerechtigkeit als humanistischer Bildungsauftrag: Alanus-Rektor Marcelo da Veiga in der Bibliothek der Hochschule.

Gerechtigkeit als humanistischer Bildungsauftrag: Alanus-Rektor Marcelo da Veiga in der Bibliothek der Hochschule.

Foto: Roland Kohls

Verglichen mit der Massen-Uni haben Sie's hier sehr gemütlich.
Professor Marcelo da Veiga: So groß wie möglich zu werden, ist gar nicht unser Ziel. Mit unseren jetzt 1100 Studenten stoßen wir schon an eine Grenze. Ich glaube auch nicht, dass Größe oder Masse ein Qualitätsmerkmal ist.

Was denn stattdessen?
Da Veiga: Wir nehmen Interdisziplinarität sehr ernst. Jeder Student hat hier ein obligatorisches "Studium Generale" aus Fächern, die mit seinem Studium zunächst nichts zu tun haben. Und: Studierende der wissenschaftlichen Fachrichtungen wie Pädagogik oder Wirtschaft haben auch kunstpraktische Fächer.

Verpflichtend?
Da Veiga: Verpflichtende Kunstprojekte, ja. Das führt zu Scherzen in der Öffentlichkeit: Müssen die Wirtschaftler Bilanzen tanzen, oder was? Die Studenten schätzen das trotz aller Witze aber sehr. Und dann gibt es ein Zweites, das unser Profil stark prägt: Das ist der Umgang mit anthroposophischen Bildungsansätzen und Themen.

Sie sagten einmal, die Alanus Hochschule sei "nicht mehr in diesem Sinne eine anthroposophische Hochschule". Sind Sie der Tradition untreu geworden?
Da Veiga: Generell halte ich die Anthroposophie für einen verkannten Quell humanistischer Bildung. Sie hat sich bislang außerakademisch entwickelt, obwohl der Anspruch des Denkers Rudolf Steiner ein anderer war. Ein Diskurs darüber hat kaum stattgefunden. Und das ist das, was wir versuchen. Hochschulen sind ein Ort der Ideenkonkurrenz. Wir laden daher auch Kritiker der Anthroposophie wie zum Beispiel Helmut Zander ein, um diesen kritischen Diskurs zu ermöglichen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben von Hochschulen. Unser Anknüpfen daran kommt nicht aus einer Tradition, sondern aus der Überzeugung, dass da ein Bildungsgut ist, das in den Diskurs eingebunden werden muss.

Wie denn zum Beispiel?
Da Veiga: Zum Beispiel, indem wir die Waldorfpädagogik und Kunsttherapie zum Gegenstand der Forschung machen, wo neben den Stärken auch Schwachpunkte zum Vorschein kommen können und Dinge, die sich überlebt haben. Dabei geht es auch um aufwendige empirische Forschungsprojekte. Unsere Hochschule ist ein Ort, der sich die Freiheit nimmt, auch die Impulse der Anthroposophie zu untersuchen. Das hat aus meiner Sicht gesellschaftlich bislang gefehlt.

Alternative Impulse sind stark im Gespräch - Götz Werners "bedingungsloses Grundeinkommen" etwa -, im Alltag aber wenig präsent. Sind Sie zu leise?
Da Veiga: Wir möchten anders Gehör finden. Wir wollen ein Ort sein, an dem solche Möglichkeiten wahrgenommen werden - als Ansätze, die aufgegriffen werden oder auch nicht. Heute ist es nötig, das Geistige nicht mehr auszusparen. Was sind unsere Werte? Wie erneuern wir sie? Sich dann nur ans Mittelalter zu erinnern, die Antike, die Renaissance - das reicht nicht mehr. Wir müssen originäre geistige Werte jetzt erzeugen. Götz Werner ist da ein gutes Beispiel: Jemand, der soziale Ideen diskussionsfähig machen will, die er aus dem Umgang mit der Anthroposophie gewonnen hat und in seinem Betrieb umzusetzen versucht. Andere setzen das in der Philosophie, der Pädagogik oder der Therapie um - und dann wirkt es in die Gesellschaft hinein und konkurriert mit anderen Angeboten. Aber es ist kein missionarischer Gedanke damit verbunden.

Wie wollen Sie das in der Zukunft konkret weiter angehen?
Da Veiga: Durch Konsolidierung und Ausbau der künstlerischen und wissenschaftlichen Bereiche. Ausbauen wollen wir darüber hinaus das Promotionsrecht. Wir haben es für Pädagogik und möchten es auf Wirtschaft und Kunsttherapie ausweiten. Zudem werden ab 2018/19 die Studierendenzahlen aus dem deutschsprachigen Raum rapide sinken. Aus diesem Grund schaffen wir auch englischsprachige Angebote für Studierende aus dem Ausland. Dass einer Deutsch so schnell und so gut lernt, dass er hier studieren kann, ist nicht immer der Fall. Allerdings sind wir weit davon entfernt, alle Studiengänge auf Englisch umzustellen.

Jetzt ist Ihre Amtszeit bis 2018 verlängert worden. 16 Jahre - wird Ihnen das nicht ein bisschen lang?
Da Veiga: Die Frage ist berechtigt. Hat man da nicht noch anderes vor? Ja, hab? ich! Aber weil wir 2014 den Standort Mannheim hinzugewonnen haben (mit dem besonderen Anspruch, eine diskursfähige Waldorfpädagogik zu betreiben), möchte ich das noch ein Stück weit begleiten. Denn da ist personelle Kontinuität gefordert. Zudem muss man in so einem Amt nicht nur akademisch gestalten und verwalten, sondern auch unternehmerisch unterwegs sein. Das bedeutet etwa, ein "Netzwerk von Verständigen" aufzubauen, die bewusst unterstützen, was wir wollen. Das alles hat mich bewogen - nachdem die Institution an mich herangetreten ist -, dass ich gesagt habe: Okay!

Was wollen Sie neu aufbauen?
Da Veiga: Wir wollen an die Tradition der "Liberal Arts" anknüpfen: mit einem Studiengang, der kultur- und geisteswissenschaftliche Themen mit gesellschaftlichem Engagement verknüpfen soll, sehr offen beginnt, dies aber dann spezialisiert und auf einen Master vorbereitet, der entweder im Geisteswissenschaftlichen liegen kann, oder auch in Wirtschafts- oder Bildungs- oder pädagogischen Themen.

Und was wollen Sie fortführen?
Da Veiga: Wir möchten unsere wissenschaftlichen Studiengänge weiter profilieren und stärken - bei Aufrechterhaltung der Interdisziplinarität. Und wir wollen das "Institutionelle Setting" stärken: zwei Standorte in NRW und Baden-Württemberg, und Letzteres nach nordrhein-westfälischem Recht.

Klingt kompliziert.
Da Veiga: Eben! Das sind keine trivialen Herausforderungen. Aber die Zusammenarbeit mit dem Ministerium ist da sehr konstruktiv. Wir tragen zur Bildungsvielfalt in Nordrhein-Westfalen bei, und vielleicht sind die auch ein bisschen stolz darauf, dass es uns gibt. "Institutionelles Setting" heißt beispielsweise, bei der Lehrerausbildung neben der Kunst noch andere Fächer anbieten zu können. Dabei wollen wir unser eigenes Profil aufrechterhalten. Das ist wie ein Garten: Hier pflegen, dort etwas schneiden und an anderer Stelle wieder Neues pflanzen.

Andere Hochschulen renommieren gern mit ihren ausgewachsenen Pflänzchen. Können auch Sie prominente Absolventen nennen?
Da Veiga: Unsere Absolventen werden Lehrer oder Therapeuten. Das sind keine Berufe, mit denen man unbedingt in Talkshows eingeladen wird. Es wäre auch gegen den Geist unserer Einrichtung, wenn man sagt: Der ist so erfolgreich geworden, weil er bei uns studiert hat. Andererseits kann man einen Blick aufs Ganze werfen. Zwei oder drei Prozent der Absolventen von Kunstakademien werden tatsächlich Künstler. Die 98 Prozent, die übrig bleiben - die bleiben wirklich übrig. Von unseren Absolventen können bis zu 90 Prozent ihr Kunststudium in kunstnahen Berufen tatsächlich verwerten, mit Kunsttherapie oder anderen kunstnahen Aufgabenfeldern, auch in Unternehmen zum Beispiel. Wesentlich ist, dass man nicht auf den einen guckt, der bekannt wird, sondern auch in die Breite sieht.

Das entspricht dem Vorbild Ihres Namensgebers Alanus ab Insulis: In dessen Werk wirken alle Tugenden zusammen, um einen perfekten Menschen zu schaffen ...
Da Veiga: Ich würde das nicht "perfekter Mensch" nennen. Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren dadurch, dass er sein Wesen erst bestimmen muss. Das vermittelt sich immer weniger durch Überlieferung; heute muss er sich in seiner Menschlichkeit selbst gestalten. Da sind Kultur, Wissenschaften und Kunst nicht Beiwerk, sondern essenziell. Der Mensch im Unterwegssein zu sich selbst braucht diese Auseinandersetzung, um in der Wirtschaft oder wo auch immer menschlich tätig zu sein. Eine Ausbildung, die nur auf Fachkenntnis zielt, auf Anpassung an wirtschaftlichen Bedarf -, die übersieht das. Dann wundert man sich, wenn die Leute sinnfrei Geld scheffeln und das nur aushalten, weil sie ständig koksen oder Ähnliches.

Ihr Gegenvorschlag?
Da Veiga: Wir sagen: Wo du tätig wirst, musst du die menschlichen Aspekte mit hineintragen. Dafür brauchst du humanistische Bildung. Wir versuchen da Ansätze. Man kann so etwas nicht "machen" - nur Gelegenheiten schaffen und Freiräume anbieten. Für uns ist sehr wichtig, da dranzubleiben und kein Mainstream zu werden. Nicht, um uns zu profilieren, sondern um Akzente zu setzen. Das ist die besondere Chance kleinerer Hochschulen.

Zur Person

Professor Marcelo da Veiga wurde im Jahre 1960 in Blumenau (Brasilien) geboren, wuchs in Deutschland auf und wurde Professor für deutsche Sprache und Literatur an der brasilianischen Bundes-Universität in Florianópolis. Als Projektleiter führte er die 1973 gegründete Alanus Hochschule in Alfter zur staatlichen Anerkennung und wurde 2002 zu deren Gründungsrektor gewählt. Er ist dort zudem Professor für Philosophie und verantwortet das "Studium Generale". Im Januar hat der Senat der Hochschule Da Veigas Amtszeit erneut verlängert; sie soll nun bis August 2018 dauern.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Ohne Würde
Kommentar zu Boris Johnson Ohne Würde
Aus dem Ressort
Sonne satt
Erster Frühlingstag in der Region Sonne satt