Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg In der Wäschetruhe von Beuel nach Siegburg

Alfter · Der 78-jährige Alfterer Alfred Gehlen schreibt über sein Leben im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob er seine Erinnerungen auch veröffentlicht, steht noch nicht fest.

 Mit dem Bleistift in der Hand: Alfred „Freddy“ Gehlen.

Mit dem Bleistift in der Hand: Alfred „Freddy“ Gehlen.

Foto: Bettina Thränhardt

Alfred „Freddy“ Gehlen verbrachte seine ersten Lebensjahre im Zweiten Weltkrieg. 1938 ist er geboren, sechseinhalb ist er bei Kriegsende. Viele Erlebnisse kann der 78-Jährige, der in Beuel aufwuchs, bis heute nicht vergessen und hat deshalb begonnen, sie aufzuschreiben. Handschriftlich, mit Bleistift. Etwas weniger als zehn DIN-A 4-Seiten sind es bisher.

Wäschetruhe als Verkehrsmittel

Zu lesen ist dort etwa, wie in einem Beueler Krankenhaus bei ihm Scharlach diagnostiziert wird. Zur weiteren Behandlung soll er nach Siegburg gebracht werden. Mangels anderer Verkehrsmittel – Busse und Bahnen verkehren nicht – tragen Mutter und Vater den kleinen Freddy in einer Wäschetruhe von Beuel nach Siegburg, immer an den Bahnschienen entlang.

„Die Eltern erzählten im Krankenhaus, dass sie von Tieffliegern beschossen wurden, doch absichtlich zielten die Piloten daneben, da sie die Situation der beiden Korbträger zwischen den Gleisen erkannt hatten“, schreibt Gehlen. Im Krankenhaus dann die Überraschung: Der Scharlach war eine Fehldiagnose, „kerngesund der Junge“.

Strafdienst im Krankenhaus

Der Vater holt den Sechsjährigen wieder aus dem Krankenhaus ab, diesmal nimmt er das Fahrrad und setzt seinen Sohn mit einer Decke auf den Gepäckträger. Vater und Sohn müssen über die Siegbrücke, die aber kurz nach Kriegsende von den Amerikanern gesperrt ist. Kurzerhand fährt der Vater mit dem Rad trotzdem drüber – und wird von amerikanischen Soldaten angehalten. „Eine Stimme rief: Sofort hierher! Die Brücke ist gesperrt, Ihre Papiere raus, schnell, schnell!“, so Gehlen. Zur Strafe sei sein Vater dienstverpflichtet worden. Im amerikanischen Jeep wird er zurück zum Krankenhaus gefahren, wo er alle Arbeiten verrichten soll, die man ihm aufträgt.

Für Freddy ist das zunächst eine gute Erfahrung: „Das war eine tolle Sache, in einem Jeep zu sitzen. Ich war ganz stolz und begeistert, als wir im Krankenhaus ankamen.“ Erst mal gab es etwas zu essen: „Weißbrot von den Amis“, Käse und Kakao – ein Essen, an das sich Gehlen noch Jahre später erinnert, ernährte sich seine Familie in dieser Zeit doch hauptsächlich von Mais- und Kommissbrot.

Die Schwester Oberin hatte ihn ins Herz geschlossen, so Gehlen. Sie nimmt ihn auf den Schoß und erzählt ihm Märchen oder ermuntert ihn, auf den langen Krankenhausfluren entlangzuschlittern. Und das trotz nagelbeschlagener Schuhe.

Nachts hatte er Albträume

Aber der Junge sieht auch einiges, was ihn nachts um den Schlaf bringt. Oft kann er abends nicht einschlafen oder wacht mit Albträumen auf. „Von überall her wurden verletzte Soldaten eingeliefert, manche wurden gerettet, viele leider nicht“, blickt er auf die Zeit im Krankenhaus zurück. Die Zimmer waren voll, sodass viele Betten auf dem Flur standen.

Einmal habe er einen jungen verwundeten Soldaten gesehen, nicht älter als 15 Jahre. Der winkt ihm, er kann nur sehr leise sprechen und bittet Freddy, seine Puppe aufzuheben, die auf den Boden gefallen ist. „Ich habe so schnell gar nicht gucken können, wie er sie im Arm hatte und an sich gedrückt hat“, erzählt Gehlen.

Kinder spielen zwischen den Leichen

Oft spielt er mit anderen Kindern auf dem Krankenhaushof Ball. Niemand achtet auf die spielenden Kinder, obwohl im Hof auch die mit weißen Tüchern bedeckten Toten in Krankenhausbetten liegen. „Es waren viele Betten, es wurden immer mehr.“ Wenn der Stoffball zwischen die Betten fliegt, sieht er mehr, als er verarbeiten kann. „Ich konnte es nicht mehr sehen, weil die Tücher oft verrutscht waren und den Soldaten Arme und Beine fehlten, ich machte die Augen zu.“ Aus Angst vor Bombenangriffen hat er nachts oft die Bettdecke übers Gesicht gezogen – eine Angewohnheit, die er bis heute hat.

Der Schlosser und Dreher in Rente lebt in Alfter zusammen mit seiner Partnerin Elisabeth Endres. Lange hat er es vermieden, sich zu erinnern. Jetzt will er alles festhalten – die Schrecken des Krieges sollen nicht in Vergessenheit geraten. Ob er das fertige Buch auch veröffentlichen will, hält er sich noch offen.

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