Interview mit der aus Alfter stammenden Autorin Sandra Roth "Kinder sehen zuerst den Menschen"

Alfter · Die aus Alfter stammende Autorin Sandra Roth liest aus ihrem Buch über das Leben mit ihrer schwer behinderten Tochter. Roth liest daraus am Mittwoch im Bornheimer Ratssaal. GA-Mitarbeiterin Sandra Roth hat sie vor der Lesung interviewt.

 Autorin Sandra Roth ist am Mittwoch in Bornheim zu Gast.

Autorin Sandra Roth ist am Mittwoch in Bornheim zu Gast.

Foto: BETTINA FÜRST-FASTRÉ

Als Sandra Roth im neunten Schwangerschaftsmonat einen Ultraschall vornehmen ließ, stellten die Ärzte bei ihrer Tochter eine Gefäßfehlbildung im Gehirn fest. Die Konsequenz: Eine ausgeprägte Spastik, Epilepsie und eine schwere Sehbehinderung.

Wie sich das Leben mit einem schwer behinderten Kind anfühlt, welche Herausforderungen Eltern zu meistern haben und wie Inklusion gelingen kann, beschreibt die aus Alfter stammende Journalistin und Autorin in ihrem Buch "Lotta Wundertüte - Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl". Daraus liest sie am Mittwoch im Bornheimer Ratssaal. Mit Sandra Roth sprach GA-Mitarbeiterin Sonja Weber.

Nach der Geburt Ihrer Tochter war lange Zeit nicht klar, wie sehr sie die Fehlbildung im Gehirn beeinträchtigen wird. Wie haben Sie diese Zeit der Ungewissheit erlebt?
Sandra Roth: Wir konnten im Grunde nur zwei Dinge tun: Fördern und warten. In dieser Zeit war mein Sohn meine Rettung. Er war zweieinhalb Jahre alt, als seine Schwester zur Welt kam. Er wollte toben, auf den Spielplatz gehen, kuscheln und dann war da ja auch noch seine kleine Schwester - da hatte ich nicht viel Zeit zu trauern und zu grübeln.

Dennoch beschreiben Sie in Ihrem Buch Situationen, die für Sie sehr schwierig waren.
Roth: Wenn ich beispielsweise meinen Sohn vom Kindergarten abgeholt habe und sah, wie die kleinen Geschwister seiner Freunde langsam laufen lernten - da musste ich manchmal zu Hause bleiben und jemand anders zum Abholen schicken. Heute schmerzt es mich nicht mehr, Vorschulkinder zu sehen. Ich denke nicht: Lotta könnt jetzt auch erste Schreibversuche machen. Ihre Behinderung ist eine von vielen Eigenschaften, die sie ausmachen, ein kleiner Prozentsatz ihrer wunderbaren Persönlichkeit.

Ihre Tochter besucht einen Regelkindergarten. Warum haben Sie sich denn nicht für einen heilpädagogischen Kindergarten oder für eine inklusive Einrichtung entschieden?
Roth: Mein erster Plan war der heilpädagogische Kindergarten, weil sie viele Therapien benötigt. Als ich sie dort anmelden wollte, wurde mir mitgeteilt, dass der Kindergarten geschlossen wird. "Wir sind nicht mehr gewollt", sagte man mir. "Wir haben dann einen kleinen Regelkindergarten mit 30 Kindern und zwei Gruppen gefunden, dessen Leiterin Heilpädagogin ist und die Lotta mit offenen Armen empfangen hat.

Hatten Sie Bedenken?
Roth: Natürlich habe ich mich gefragt, ob sie dort gut gefördert wird. Ob die Erziehrinnen neben dem ?normalen Wahnsinn' noch ein behindertes Kind versorgen können - denn es hat immerhin elf Monate gedauert, bis wir einen Integrationshelfer bewilligt bekommen haben. Wie werden die anderen Kinder reagieren? Wann werden sich die ersten Eltern beschweren? Das alles hat mich schon beschäftigt. Glücklicherweise waren diese Sorgen völlig unbegründet.

[Zur Person]Wie gehen die anderen Kinder mit ihrer Tochter um?
Roth: Sie spielen und toben mit ihr, laden sie zum Geburtstag ein, aber es landet auch mal eine Schippe Sand in ihrem Gesicht - sie wird nicht in Watte gepackt. Erst neulich teilte mir die Freundin meiner Tochter ganz ernst mit: "Ach übrigens, die Lotta ist behindert." Das ist ihr erst aufgefallen, nachdem sie vier Jahre lang mit ihr gespielt hat - wie wunderbar. Kinder sehen zuerst den Menschen und dann erst die "Schublade".

Profitieren also beide Seiten?
Roth: Ja. Wäre ich als Kind in diesem Kindergarten gewesen, ich hätte mein Buch anders geschrieben. Oder gar nicht. Ich wäre ganz anders mit dem Thema Behinderung umgegangen. Die Kinder können etwas, das ich erst sehr viel später gelernt habe. Auch ich wusste früher nicht, wie ich mich behinderten Menschen gegenüber verhalten soll. Ich habe weggeschaut, um nicht zu "gaffen". Heute finde ich das Weggucken besonders unangenehm.

Sie haben gute Erfahrungen mit ihrem Kindergarten gemacht. Dennoch wird Inklusion kontrovers diskutiert.
Roth: Fest steht: Inklusion ist ein Menschenrecht, verankert in der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Frage ist: Wie setzen wir es um? Meiner Meinung nach sollte man das Thema nicht ideologisch, sondern pragmatisch diskutieren. Nicht pauschal, sondern individuell schauen, was für welches Kind das Beste ist.

Was könnte Ihrer Meinung nach verbessert werden?
Roth: Helfen würde es schon, wenn die täglichen Kämpfe vieler Eltern wegfallen würden, zum Beispiel mit den Ämtern. Warum hat es beispielsweise bei uns elf Monate gedauert, bis der Integrationshelfer bewilligt wurde? Diese Kämpfe sind das Anstrengendste, wenn man ein behindertes Kind hat, sie kosten so viel Kraft.

Ihre Tochter ist jetzt sechs. Wird sie auf eine Regelschule gehen?
Roth: Wir haben uns einige inklusive Schulen angesehen und sie schließlich an einer Förderschule angemeldet. Dort gibt es beispielsweise 13 Therapeutenstellen, ein Schwimmbad, das wegen der Kinder mit Spastik extra warm ist, therapeutisches Reiten - das kann uns im Moment keine inklusive Schule bieten. Ich bin froh, dass wir mit Lotta noch die Wahl haben zwischen inklusiver oder Förderschule.

Was erwartet die Besucher Ihrer Lesung am Mittwoch?
Roth: Ich lese einmal quer durchs Buch, auch Stellen, die zum Lachen sind. Es soll keine Veranstaltung sein, nach der man mit gesenktem Kopf nach Hause geht. Bei vielen Lesungen berichten die Zuhörer auch von ihren eigenen Erlebnissen. Es soll ein Abend zum Diskutieren, Nachdenken und Lachen werden.

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