Contergangeschädigte aus Bornheim „Niemand hätte gedacht, dass wir alt werden“
Bornheim · Brigitte Gerards hat seit ihrer Geburt verkürzte Arme. Der Grund für ihre körperliche Behinderung: das damalige Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan, das vor 60 Jahren auf den Markt gekommen ist.
Nach Umleitungen sucht Brigitte Gerards (56) seit sie denken kann. Aufgeben ist für die gebürtige Kölnerin, die seit 1988 in Bornheim-Sechtem wohnt, keine Option. „Ich gehe stets an meine Grenzen“, sagt sie und faltet die Hände über ihrer Brust. Gerards hat seit ihrer Geburt verkürzte Arme. Der Grund für ihre körperliche Behinderung: das damalige Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan, das vor 60 Jahren auf den Markt gekommen ist.
„Meine Mutter hat vermutlich nur drei Tabletten genommen“, sagt Gerards, die nie mit ihrer Mutter über das schädigende Medikament gesprochen hat (Infokasten). Auch nicht mit ihrem Vater oder ihren zwei älteren Schwestern. Ihre Behinderung wurde in der Familie nicht thematisiert. Gerards wuchs genauso auf wie ihre Geschwister, lernte Rollschuh- und Fahrradfahren und machte viele Jahre später sogar ihren Autoführerschein für Schaltwagen. Sie besuchte eine gewöhnliche Grundschule, ging später in Köln auf die Rheinische Landesschule für Körperbehinderte an der Militärringstraße, die heutige Anna-Freud-Schule, und machte dort ihren Realschulabschluss. Damals wurde für die Schüler sogar therapeutisches Reiten angeboten.
Anstatt die Behinderung der Tochter zum Anlass für Resignation zu nehmen, gaben die Eltern ihre Tochter Mitte der 1960er Jahre in einen integrativen Kindergarten für nicht-behinderte und behinderte Jungen und Mädchen an der Drachenfelsstraße in Köln-Zollstock, speziell für solche Kinder, die von dem Präparat geschädigt wurden. „Im Fokus stand die Förderung zur Selbstständigkeit. Wenn jemand keine Arme hatte, musste derjenige das mit den Füßen hinbekommen“, erklärt Gerards. Diese Umleitungen, von denen sie spricht, haben heute ihren Preis.
Viele leiden an Depressionen
Wegen anormaler Bewegungen der Betroffenen wurden in den vergangenen Jahrzehnten Hüften und Fußgelenke massiv belastet, weshalb die geschädigten Männer und Frauen heute unter heftigen Schmerzen leiden, die teilweise nur mit starken Schmerzmitteln gemindert werden können. Damals hatten Ärzte Contergangeschädigten eine Lebensdauer von etwa 18 Jahren eingeräumt. „Niemand hätte damit gerechnet, dass wir alt werden, und insofern hat sich auch keiner mit den Folgeschäden beschäftigt. Ich würde heute im Rollstuhl sitzen, wenn sich die Medizin nicht weiterentwickelt hätte“, sagt Gerards.
Sie kennt ebenfalls die Schmerzen dieser Folgeschäden. Erst kürzlich musste sie an ihrer Hüfte operiert werden. Anschließend folgte ein Aufenthalt in der Reha-Klinik. „Bei zahlreichen Contergangeschädigten wurde bereits jetzt die Implantation eines künstlichen Gelenkes der Hüfte, des Knies oder der Schulter erforderlich“, erklärt Dr. Klaus Peters (58), Professor und Chefarzt der Orthopädie und Osteologie (Knochenlehre) der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht.
Er selbst operierte Gerards vor einigen Wochen und hat sich auf Contergangeschädigte spezialisiert. „Weiterhin besteht bei den Betroffenen im Vergleich zur 'normalen' Bevölkerung ein erheblich höherer Anteil an psychischen Störungen, insbesondere Depressionen“, ergänzt er. Peters sagt von sich selbst, dass er „zu den sogenannten 'Conterganjahrgängen' gehört“ und sich an contergangeschädigte Mitschüler erinnern könne.
Selbstständigkeit ist wichtig
Unter Depressionen leidet Gerards nicht, dabei hätte sie allen Grund dazu. Schließlich ist sie heute noch zum Teil Spott und Beleidigungen ausgesetzt. „Natürlich sagt mir niemand etwas ins Gesicht. Es wird hinter meinem Rücken getuschelt und irgendwann bekomme ich von dem Gerede etwas mit“, sagt Gerards. Sätze wie „Wie kann jemand wie Sie nur Kinder in die Welt setzen?“ oder „Hut ab vor dem Mann, der diese Frau geheiratet hat“, sind schon gefallen. Doch im Ort und in ihrer Straße sei Gerards nach eigenen Angaben keinen Anfeindungen ausgesetzt. „Hier habe ich ein gewisses Standing“, betont sie.
Nicht nur die Hüfte bereitet Gerards Probleme, auch ihre Schultern, sie hat mittlerweile Arthrose. Die Beschwerden in den Schultern waren letztlich der Grund, warum sie 2007 aus dem Öffentlichen Dienst ausscheiden musste und seitdem in Pension ist. Mehrere Jahre war sie für den Landschaftsverband Rheinland (LVR) tätig, bei dem sie auch als junge Frau ihre Ausbildung absolviert hatte. Anfang der 1980er Jahre lernte sie ihren Mann im Kanu-Club kennen, heiratete ihn im September 1989 und stieg Anfang der 1990er Jahre wegen der Familienplanung aus dem Job aus. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie Vollzeit gearbeitet – trotz ihres Handicaps.
„Uns wurde immer eingebläut, dass wir besser sein müssen als Nicht-Behinderte, um bestehen zu können“, erinnert sich Gerards. Sie brachte diese Power auch ein, bestand im Job und in der Gesellschaft. Für die Mutter eines 26-jährigen Sohnes und einer 23-jährigen Tochter bedeutet Rückwärtsgehen auch heute einen gewaltigen Einschnitt in ihre Selbstständigkeit. „Mir ist es wichtig, so viel wie möglich selbst zu machen. Bis vor einiger Zeit habe ich noch selbstständig meinen Haushalt geführt. Inzwischen geht das nicht mehr“, gesteht sie und ergänzt, dass sie kein Problem damit habe, für solche Dienste zu bezahlen. „Andere machen das ja auch so.“