Missbrauch in der katholischen Kirche Die Eingeweihten hüten das Geheimnis

MECKENHEIM · Kaum ein Kriminalfall der Nachkriegsgeschichte hielt die Deutschen so in Atem wie der des Serienmörders Jürgen Bartsch. Vier Kinder starben, bevor der Täter gefasst wurde. Eher unbekannt ist der Bezug zur aktuellen Debatte um die Heime jener Zeit - und der Bezug zu Meckenheim.

 Pater Gerhard Pütz als Zeuge im Düsseldorfer Mordprozess gegen Bartsch am 18. März 1971 auf dem Weg zum Gericht.

Pater Gerhard Pütz als Zeuge im Düsseldorfer Mordprozess gegen Bartsch am 18. März 1971 auf dem Weg zum Gericht.

Foto: dpa

Die nun folgende Geschichte ist keine Rechtfertigung, sondern lediglich eine Zustandsbeschreibung aus einer anderen, hoffentlich vergangenen Welt: Albrecht Tewes macht sich so seine Gedanken: "Vielleicht hat Gott es mit Jürgen Bartsch gut gemeint, dass er ihn früh sterben ließ", sagt der pensionierte Meckenheimer Pfarrer.

"Mord an der Seele" nannte die vor wenigen Wochen verstorbene Psychoanalytikerin Alice Miller das, was dem späteren Serienmörder Bartsch, der als Jugendlicher in den Jahren 1962 bis 1966 vier Kinder tötete, bis er von der Polizei gefasst und gestoppt wurde, in seinen Kinderjahren widerfuhr.

Für Alice Miller war Bartsch "das Opfer von vielen tragischen Verkettungen". Ein schwerwiegendes Glied in dieser verhängnisvollen Kette soll Gerhard Pütz gewesen sein, Salesianer-Pater im Don-Bosco-Haus in Aulhausen am Rhein. Von den 1970er Jahren bis zu seinem Tod 1986 wohnte und arbeitete Pütz in Meckenheim.

Schicksalhaft wie schon die Umstände seiner Geburt sollen für Bartsch die Jahre im Heim in Aulhausen und dort die Begegnung mit Pater Gerhard Pütz als Erzieher gewesen sein, sagt der angesehene deutsch-amerikanische Journalist und Buchautor Charles Paul Moor, der drei Bücher über Bartsch schrieb. Gleich nach dem Düsseldorfer Mordprozess gegen Bartsch ermitteln Staatsanwaltschaften jahrelang gegen den Pater wegen Unzucht mit Abhängigen, Sadismus in der Erziehung, Meineid.

Die Ermittlungen gegen Pütz werden im Juni 1972, zwölf Jahre nach Bartschs Heim-Aufenthalt, eingestellt. Die Salesianer entfernen Pütz dennoch aus der Jugendarbeit und schicken ihn als Seelsorger ins Kloster und Altenheim Sankt Josef in Meckenheim. Die Klärung des im Frühjahr 1971 erhobenen Meineidsvorwurfs wird von der Justiz sechs Jahre auf die lange Bank geschoben, das Verfahren schließlich Monate nach Bartschs Tod eingestellt.

Noch während der Ermittlungen zieht Pütz nach Meckenheim um, erhält Kost und Logis bei den Nonnen. Er ist Hausseelsorger im Altenheim, spendet Sakramente, liest Messen, auch in der Pfarrkirche Sankt Johannes der Täufer, spielt gelegentlich die Orgel, arbeitet mit der Missionsprokur der Salesianer Don Boscos in Bonn zusammen, sammelt Spenden für den Orden, fährt zum Weinkauf nach Aulhausen. In die Jugendarbeit in Meckenheim war Pütz nicht einbezogen, versichert Alt-Pfarrer Tewes.

Nach Darstellung der Salesianer lebte Pütz seit 1974 in Meckenheim. Pfarrer Tewes glaubt sich aber zu erinnern, dass der Pater schon früher dort erschien. Gerufen hatte ihn keiner. Auch das Bistum Köln war an der Verschiebung des umstrittenen Geistlichen nicht beteiligt, da die Ordensgemeinschaften von den Bistümern unabhängige Hierarchien bilden. Beteiligt waren die Salesianer sowie die Oberen der Missionsschwestern von der Unbefleckten Empfängnis der Mutter Gottes.

Dem Orden gehörten die Nonnen an, die das Meckenheimer Haus führten, aber nichts von der Vorgeschichte ihres neuen Hirten wussten. Und die wenigen Eingeweihten schwiegen. Rückblende: 1958 kommt Jürgen Bartsch mit elf Jahren ins Salesianer-Internat. In Pater Pütz erlebt der stille Junge einen Seelsorger, der ihn vor Frauen warnt, Sexualität verteufelt, tagtäglich über die schwere Sünde der Onanie spricht, die "direkt nach Mord" komme, und ihn, als Bartsch im Zeltlager hohes Fieber bekommt, mit in sein Bett im Gasthof nimmt und missbraucht - so jedenfalls schilderte es Bartsch später auf der Anklagebank.

Der schizophrene Umgang mit Sexualität in der reinen Männergesellschaft ist die eine Seite. Die andere ist die von Brutalität und Sadismus geprägte Heimerziehung. Im Berufungsprozess treten fünf Jungen auf, die Bartschs Berichte bestätigen. "Die Patres schienen nur zu unterrichten, wenn sie nicht gerade mit Verprügeln beschäftigt waren", sagt ein Zeuge aus. Von Pater Pütz wird berichtet, dass er ohne erkennbaren Grund mit Stöcken zuschlug, bis ihm Schaum aus den Mundwinkeln trat, vor allem während der Proben des Schulchors.

Ein Zögling bezeichnet den Priester gar als "Satan im geistlichen Gewand". Den aber hat sein Gedächtnis verlassen. Die Vernehmung als Zeuge während des Mordprozesses wird zu einem Desaster für Pütz, er verlässt das Gericht mit hochrotem Kopf. Gerhard Pütz legte 1936, mit 23 Jahren, die erste Profess als Salesianer Don Boscos ab und studierte zunächst Philosophie, von 1939 bis 1948 in Bamberg Theologie - mit fünf Jahren Unterbrechung als Soldat - und empfing als 35-Jähriger die Priesterweihe. 1949 wurde er Erzieher in Aulhausen.

Bartsch-Biograf Charles Paul Moor erwähnt einen Skandal um das Kölner Don-Bosco-Heim, wo Pütz nach Aulhausen Ende der 60er Jahre eine Weile als "guter Hirte" gewirkt habe (das Heim ging 1970 an die Stadt Köln über und wurde später geschlossen). Neben schweren körperlichen Misshandlungen und regelmäßigem Missbrauch gehörte auch wirtschaftliche Ausbeutung zum System: Die Zöglinge setzten ohne Lohn Tag für Tag Hunderte Kugelschreiber für eine Firma zusammen.

"Wir konnten uns nicht wehren, uns hat keiner geglaubt", sagt ein Ex-Insasse rückblickend zu den Misshandlungen. Juristisch gesehen bleibt die Weste des Paters weiß. Auch die Kirche kann sich vor sichtbarem Schaden schützen. Nach seinem Tod mit 73 Jahren wird Gerhard Pütz mit allen kirchlichen Ehren in seinem Heimatort bei Zülpich beigesetzt. Der Weihbischof leitet die Exequien.

Sein Zögling Jürgen Bartsch, der Serienmörder, wurde 29 Jahre alt. Nach Bartschs Tod fährt der Vater mit dem Sarg im Auto durchs Ruhrgebiet, von Friedhof zu Friedhof, erhält aber nirgendwo die Genehmigung zur Bestattung. "Jürgen Bartsch wurde dann bei Nacht und Nebel verscharrt, sein Name durfte nicht auf den Grabstein", so Anwalt Rolf Bossi. Die Berliner Zeitung nannte den "Kirmesmörder" noch dieser Tage "das berühmteste Opfer des pädophilen Systems innerhalb kirchlicher Lehranstalten".

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort