„Nachtwächter“ führt durch das alte Rheinbach Mit dem Spieß vertrieb er streunende Hunde

Rheinbach · Rheinbach vor 200 Jahren: Eine Nachtwächtertour durch die Altstadt lässt Geschichte lebendig erleben.

 „Hört ihr Leut' und lasst euch sagen...“: Rudolf Wehage führt mit Spieß und Laterne als Nachtwächter durch Rheinbach.

„Hört ihr Leut' und lasst euch sagen...“: Rudolf Wehage führt mit Spieß und Laterne als Nachtwächter durch Rheinbach.

Foto: Axel Vogel

Ein fahler, halbvoller Mond hängt über der Rheinbacher Altstadt, Wolkenschwaden treiben vorüber. Es ist 21 Uhr, Freitagabend. Da tritt eine dunkle Gestalt mit Schlapphut, langem Mantel, Lanze und Laterne aus dem Restaurant neben der Kreissparkasse: „Hört ihr Leut' und lasst euch sagen...“ ruft er. Es ist der Nachtwächter Rudolf Wehage.

Eine Gruppe von etwa 20 Leuten schließt sich ihm für einen eineinhalbstündigen Rundgang an. Sie wollen etwas über die Rheinbacher Nächte vor 200 Jahren erfahren. Eigentlich war der Wächter nur Feuermelder, der von den drei Türmen der Stadtbefestigung über die strohgedeckten Häuser spähte. Ein Dokument aus dem Jahr 1816 gibt Aufschluss. Da waren die französischen Besatzer gerade abgezogen, Stadtmauern und Türme geschleift.

Die Rheinbacher Bürger hatten Schlösser an ihre Türen montiert. Dennoch bestellten sie zwei Aufpasser, einen Schuster und einen Pflasterer, die ihr Sicherheitsgefühl erhöhen sollten. Von den umgerechnet 400 Euro Lohn konnten die beiden nicht leben. Begehrt waren aber die zwei Paar Schuhe, die sie jährlich erhielten. Denn die meisten einfachen Leute gingen damals noch barfuß, berichtet der pensionierte Lehrer. Der Spieß diente hauptsächlich der Abwehr streunender Hunde und ist Ursprung des Wortes „Spießbürger“.

An der Ecke Bachstraße/Pfarrgasse erinnert Wehage an die sieben Bäche, die einst durch die Stadt flossen, und an eine berühmte Persönlichkeit, die unweit wohnte: Gertrude Spickermann. Deren Vater soll die Mutter oft verprügelt haben. Am 1. Mai 1836 lag sie tödlich verletzt im Hof. Sie hinterließ sechs Waisen. Die Familie zerfiel, die 16-jährige Gertrude ging ins Kloster und nahm den Namen Seraphine an. Später gründete sie einen neuen Orden: die Schwestern von der Liebe zum heiligen Blut Jesu Christi, die sich karitativen Aufgaben widmeten. Diese gibt es heute noch in Indonesien und den Niederlanden.

Idiotentest vor 150 Jahren

2012 waren einige zum 150-jährigen Bestehen des Ordens in Rheinbach, wo der Spickermannweg an die Gründerin erinnert. Vor dem Stadtarchiv an der Polligstraße erzählt der Nachtwächter die Geschichte zweier Fuhrleute, die wegen Trunkenheit ihre Lizenz verloren hatten und diese bei einer Vorform der heutigen „MPU“-Prüfung wiedererlangen wollten. Im Rathaus wurden sie nacheinander aufgerufen. Der erste kam freudestrahlend heraus, hatte seine Prüfungsfrage richtig beantwortet: Der Unterschied zwischen Forelle und Ente. Die eine schwimmt unter, die andere auf dem Wasser. Der zweite kam mit langem Gesicht und ohne Lizenz zurück. Ihn hatte man nach dem Unterschied zwischen Schwan und Adler gefragt. Der Schwan öffnet bereits um elf, der Adler erst um fünf Uhr nachmittags, hatte die Schnapsnase geantwortet.

An der Ecke Weiherstraße/Prümer Wall stehen die Reste des früher acht Meter hohen Mühlenturms, heute als „Pinkelturm“ bekannt. Ökonomisch denkende Stadtväter hatten den Turm mit einer Windmühle gekrönt. Wehage tutet dort in sein Horn. Dass frühere Wächter an jeder Ecke sangen, ist eine Legende, die er auf eine Szene aus Richard Wagners „Meistersingern“ zurückführt.

Am Wasemer Turm kann man die Höhe der Stadtmauer von 1298 erkennen. Durchs Neutor trieben Bauern ihr Vieh auf die Weiden vor der Stadt. Wer abends nicht rechtzeitig zurückkam, musste draußen bleiben oder die Wächter bestechen. So entstand der Begriff „Torschlusspanik“.

An der Hauptstraße, damals die Heerstraße zwischen Aachen und Frankfurt, hatten die schlauen Rheinbacher ein Stadttor errichtet, um von den vorbeiziehenden Königstrossen, Händlern und Heerhaufen Zoll zu kassieren. Auch warteten im 17. Jahrhundert 17 Unterkünfte auf Gäste. Die schmucken Häuschen an der Hauptstraße sind alle nach dem Zweiten Weltkrieg neu gebaut worden. Denn die US-Armee hatte sie bei ihrem Vormarsch auf die Brücke von Remagen in einem strategischen Bomberangriff komplett in Schutt und Asche gelegt.

Zurück an der Pumpe an der Bachstraße lässt Wehage den Original-Ruf des Nachtwächters ertönen: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen...“, denn Frauen waren damals nachts nicht auf den Straßen anzutreffen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort