Lernhauskonzept in Swisttal „Eine kleine Schule in einer großen Schule“

Interview | Swisttal · Die Gemeinde Swisttal will in ihren Schulen das Lernhauskonzept einführen. Ein Gespräch mit dem Initiator dieses Modelle.

Auch die Flure werden im Lernhaus-Konzept zum Lernen genutzt. Das Foto zeigt die Besuchergruppe aus Swisttal in einer Münchner Schule.

Auch die Flure werden im Lernhaus-Konzept zum Lernen genutzt. Das Foto zeigt die Besuchergruppe aus Swisttal in einer Münchner Schule.

Foto: Gemeine Swisttal/Gemeinde Swisttal

Rainer Schweppe ist der geistige Vater des Lernhauskonzepts. Vertreter der Gemeinde Swisttal waren bei einem Besuch in München begeistert, wo alle Schulneubauten seit 2012 - inzwischen über 40 - nach diesem Konzept errichtet wurden und werden. Auch die Swisttaler Schulen sollen mittelfristig nach Schweppes Ideen ausgerichtet werden. Mit ihm sprach Hans-Peter Fuß.

Sie selbst sind in den 1960er Jahren zur Schule gegangen. Wie sah der Unterricht damals aus?

Rainer Schweppe: Wir alle haben Halbtagsschulen besucht, die im 45-Minuten-Rhythmus arbeiteten. Wir mussten im Klassenraum in engen Stuhlreihen exakt das lernen, was vorgegeben war. Für mich ist inhaltlich das besonders gut haften geblieben, was ich mir allein oder auch in der kleinen Gruppe erschließen durfte.

Ist aus diesen Erfahrungen etwas in Ihr Lernhauskonzept eingeflossen?

Schweppe: Natürlich nimmt man etwas mit. Wie in der Vergangenheit darf die Zukunft der Schulen nicht aussehen. Und es passiert ja glücklicherweise etwas, in einigen Schulformen mehr und in einigen weniger. Aber derartige Prozesse brauchen Zeit, mehr als man eigentlich akzeptieren möchte.

Als studierter Verwaltungsfachwirt beschäftigt man sich normalerweise nicht mit pädagogischen Konzepten.

Schweppe: Als Leiter der Bildungsabteilung der Stadt Herford hat mich seinerzeit die Denkschrift der NRW Kommission „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ von Johannes Rau sensibilisiert. Dann kam die Pisa-Studie, und ich war an drei Bertelsmann-Schulprojekten beteiligt. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Schulsystem und dem schulischen Wirken hinterließ deutliche Spuren. Es war mir danach wichtig, die wissenschaftliche Ebene mehr einzubeziehen, auch weil die Akzeptanz eine größere war.

In Herford haben Sie innovative Schulbaukonzepte ab dem Jahr 2004 erstmals entwickelt und umgesetzt.

Schweppe: Sowohl der Stadtrat als auch die Schulgemeinschaften stellten sich einmütig dahinter, alle Grundschulen nach dem sogenannten Herforder Modell beziehungsweise dem Lernhauskonzept baulich umzugestalten. Eine Weiterentwicklung erfolgte mit breiter Akzeptanz in meiner Zuständigkeit in München und im Land Berlin, das ich beraten durfte.

Wie sieht das ideale Lernhaus baulich aus?

Schweppe: Das Lernhauskonzept kann man sich am besten vorstellen, wenn man baulich und organisatorisch an eine kleine Schule in der großen Schule denkt. Die einzelnen Lernhäuser decken idealtypisch die Klassen 1 bis 4 in der Grundschule und die Klassen 5 bis 10 im Sekundarbereich I ab. Eine altershomogene Struktur ist möglich, aber nicht das eigentliche Ziel. Die Oberstufe ist eine eigene Einheit. Die Lernhäuser bestehen im Primarbereich aus vier Unterrichtsräumen, zwei Differenzierungsräumen, einem Teamraum für ein multiprofessionelles Team, zwei kleinen Förderräumen, einem Forum sowie Sanitärräumen. Das Prinzip setzt sich im Sekundarbereich etwas reduziert fort. Ein zentraler Punkt – besonders im Primarbereich – ist, dass räumlich ermöglicht wird, 100 Prozent der Schulkinder adäquat in Ganztagszusammenhängen lernen und leben zu lassen. Wenn wir an den Rechtsanspruch ab 2026 denken, erhält das Lernhauskonzept eine besondere Bedeutung für die Ziele aller deutschen Kommunen.

Sind die Lernerfolge größer?

Schweppe: Es liegt auf der Hand, dass die Beziehungs- und Verantwortungsebene in kleineren Einheiten eine direktere und wirkungsvollere ist. Das bezieht sich sowohl auf das Lernen der Kinder, als auch auf die Arbeit der PädagogenInnen, seien es LehrerInnen oder ErzieherInnen, wenn Ganztagsentwicklung sinnvoll betrieben wird. Wie sich gezeigt hat, entsteht unterstützende, dynamische Teamarbeit im pädagogischen Bereich. Die Lernerfolge sind größer, weil sich der oder die Einzelne mehr im Fokus befindet.

Gibt es auch Kinder, die mit Ihrem Konzept nicht zurecht kommen? Etwa weil sie sich durch die größeren Freiräume leichter ablenken lassen?

Schweppe: Erlauben Sie mir eine Gegenfrage. Wieviel Kinder kommen denn mit dem tradierten System wirklich zurecht? Gerade durch mehr Freiräume besteht mehr Motivation, sich auseinanderzusetzen oder die Chancen der Informationsgesellschaft zu nutzen und von Methodenvielfalt zu profitieren. Allerdings muss sich Schulpädagogik darauf einlassen und niemanden allein lassen. Da können auch die Universitäten sich den Entwicklungen nicht verschließen. Sie haben hier eine entscheidende Rolle.

Die Lehrerinnen und Lehrer haben ihre Klassen nicht mehr in einem Raum im Blick.

Schweppe: Gerade die Ganztagsentwicklung und die Inklusionsthematik wird mehr Multiprofessionalität erfordern. Das stärkt die „Starken“ und die „Schwachen“. Aus Einzelkämpfern können sich unterstützende Professionen in den Schulen bilden. In meinen Augen werden Win-Win-Situationen entstehen.

Worin unterscheidet sich das Lernhaus für Grundschulen zu dem für weiterführende Schulen?

Schweppe: Die Lernhäuser im Sekundarbereich sind auch als eigene Einheiten angelegt, deren Räume sich um ein Forum gruppieren und die unter anderem über einen Teamraum verfügen. Sie haben nur etwas weniger Differenzierungsräume.

Ändert sich durch das transparente Raumkonzept und die Nutzung der zentralen Foren für den Unterricht auch die Kultur einer Schule?

Schweppe: Ja, natürlich wird die Atmosphäre, die Schulkultur sich verändern. Aus Vereinzelung wird mehr Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft werden. Die Erfahrungen zeigen, dass sich zunehmend Kinder und Lehrerinnen und Lehrer gegenseitig unterstützen. Der weitaus überwiegende Teil der Rückmeldungen ist positiv – aber wundert uns das wirklich?

In Swisttal wird eine Gesamtschule neu gebaut. Was sollten die Planer beachten, damit das Lernhauskonzept realisiert werden kann?

Schweppe: Die Gesamtschule in Swisttal scheint mir auf einem sehr guten Schulentwicklungsweg zu sein. VertreterInnen der Gesamtschule und der Gemeinde haben sich das Münchner Lernhauskonzept kürzlich vor Ort angesehen und sich dafür entschieden, in diese Richtung zu gehen und daraus etwas Eigenes zu machen. Das Raumkonzept kann man analog anwenden und davon profitieren, dass es inzwischen fundiert ist. Den Planern sollte man klare Grundlagen an die Hand geben. Dann wird daraus das, was man gewollt hat.

Sind Umbauten schwer zu bewerkstelligen?

Schweppe: Aus bestehenden Gebäuden kann man mehr machen, als auf den ersten Blick möglich erscheint. Viele Strukturen lassen sich durch kleine Anpassungen verbessern. Auch hierfür braucht es ein Leitbild, ein Konzept, mit dem ein Architekturbüro etwas anfangen kann. Entscheidend scheint mir zu sein, nach einem Raumkonzept auch ein Büro zu finden, das Erfahrung in der Planung, dem Umbau und der Errichtung von zukunftsfähigen Schulgebäuden hat. Flurschulen sind nicht die Zukunft.

Ist es ein Vorteil für die Realisierung des Lernhauskonzepts, dass Swisttal als kleine Landgemeinde nur über vier Schulen verfügt?

Schweppe: Das würde ich so nicht sagen, nachdem ich meine Erfahrungen in Herford, München und im Land Berlin einbringen konnte. Die Prozesse sind unterschiedlich, und die unterschiedlichen Dimensionen erfordern individuelle Vorgehensweisen. In Swisttal ist es der Verwaltungsspitze gelungen, die richtigen Menschen zusammenzubringen und an die Thematik heranzuführen. Das ist so nicht selbstverständlich, ein großer Erfolg für alle. Bildung ist ein harter Standortfaktor, und es ist eine historische Chance, einen Paradigmenwechsel im Schulbereich zu mehr Individualisierung und Entwicklung zu nutzen.

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