Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge Brüder wagen Neuanfang in Niederbachem

WACHTBERG · Ihr neues Zuhause steht für den Neuanfang. Ein großes Bett, zwei gemütliche Sofas im ersten Raum. Ein Fernseher samt Sessel im zweiten Zimmer, daran grenzen Flur und Küche.

 Die Brüder Shahan (links) und Muhammad Rashid sind auf unterschiedlichen Wegen nach Wachtberg gekommen. Jetzt leben sie hier mit Blick über Niederbachem und das Ländchen.

Die Brüder Shahan (links) und Muhammad Rashid sind auf unterschiedlichen Wegen nach Wachtberg gekommen. Jetzt leben sie hier mit Blick über Niederbachem und das Ländchen.

Foto: Clemens Boisserée

Durch eine Glastür geht es auf den Balkon, von dem Shahan und Muhammad Rashid jetzt über Niederbachem blicken. "Unglaublich", murmelt Muhammad, mit leichtem Akzent, beim Blick auf das friedliche Ortsleben im Ländchen. Ein Blick, der mit der Vergangenheit der beiden Brüder nichts mehr gemein hat.

2011 brach in Syrien der Bürgerkrieg aus. Oppositionelle gingen in der Hauptstadt Damaskus gegen den totalitären Präsidenten Baschar al-Assad auf die Straße, der versuchte, den Aufstand niederzuschlagen - seither tobt ein Krieg, der das ganze Land befallen hat. Ganz besonders umkämpft: Aleppo, die Heimatstadt der Brüder, an der Grenze zur Türkei.

Hier beginnt nun eine Reise, die Shahan und Muhammad erst im Juli 2014 wieder zusammenbringt. Denn während der ältere Muhammad (38) zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns als Chemiker in China arbeitet, wird Shahan (30), damals noch Ingenieur-Student, zum Militärdienst eingezogen und ist plötzlich mittendrin. Nach nur wenigen Tagen in Uniform beschließt er seine Desertion und die Flucht in die Türkei. Seine Papiere bleiben in Syrien zurück, eine offizielle Einreise in die Europäische Union ist ohne sie nicht möglich.

Zu Fuß zieht Shahan über die Grenze nach Bulgarien, wird dort aber sofort festgenommen. "Schlimmer als dort im Gefängnis kann es in Guantanamo nicht sein", sagt der Syrer und erzählt von überfüllten, kleinen Räumen, in denen er tagelang mit gefesselten Händen ohne ausreichend Wasser und Nahrung ausharren musste. Nachdem die bulgarischen Behörden ihn haben gehen lassen, nimmt Shahan Kontakt zu einem Schleuser auf. Sein Vater hinterlegt in Syrien knapp 8000 Euro, dafür nimmt ihn der Mann in seinem Lkw mit. Mit nach Deutschland. Über Bayern führt sein Weg nach Bielefeld - hier trifft er mehr als drei Jahre nach Kriegsausbruch seinen Bruder wieder.

Der hatte mehr Glück - und doch unbeschreibliches Unglück. Zwar erhält Muhammad im Herbst 2013 nach seiner Ausreise aus China in die Türkei Hilfe in der deutschen Botschaft und wird als Kontingentflüchtling anerkannt - gleichzeitig stirbt in Syrien aber seine Frau an Krebs und lässt die gemeinsamen Kinder, Tochter und Sohn, zurück. Muhammad reist nach Deutschland, trifft in Bielefeld seinen Bruder. Zusammen ziehen sie nach Wachtberg, hier haben sie einen Bekannten, hier erhofft sich der Chemiker Muhammad später Jobchancen.

Doch den 38-Jährigen beschäftigt die Sorge um seine Kinder. Für sie ebenfalls eine Einreisegenehmigung zu bekommen, ist kompliziert. Dreimal reisen die Großeltern mit den Enkeln über die Grenze, um in der deutschen Botschaft vorzusprechen. Das Prozedere zieht sich hin, erinnert sich Muhammad.

Es ist November 2014, als Shahan und Muhammad mit den beiden Kinder erstmals gemeinsam auf dem Balkon stehen und über Niederbachem blicken können. "Mein Sohn spricht schon jetzt besser Deutsch als ich", sagt Muhammad. Eine lange Reise hat in Wachtberg ein Ende gefunden. Die Kinder spielen hier Tischtennis und gehen in die Schule, die beiden Männer besuchen Sprachkurse und wollen bald auf Jobsuche gehen. Ein Neuanfang im Ländchen.

Kontingentflüchtlinge

Die sogenannten Kontingentflüchtlinge aus Syrien sind auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland, sie müssen in den ersten zwei Jahren kein Asylverfahren durchlaufen - das gilt jedoch nur für solche, die sich vorab in einer deutschen Botschaft um einen Kontingentplatz beworben haben. Syrische Flüchtlinge, die dies nicht tun und beispielsweise durch Schleuser nach Deutschland kommen, müssen ein Verfahren durchlaufen.

In drei Verordnungen hat die Bundesregierung seit März 2013 das Kontingent von anfangs 5000 auf mittlerweile 20.000 erhöht. Nordrhein-Westfalen soll davon 21 Prozent aufnehmen, außerdem gewährt NRW Syrern mit bereits hier lebenden Verwandten eine Aufenthaltserlaubnis, so die Verwandten den Lebensunterhalt der Flüchtlinge bestreiten können. Aktuell leben in Wachtberg vier syrische Flüchtlinge.

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