Adendorfer Geschichte(n) Ein Leben voller "Gott sei dank"

ADENDORF · Die Adendorfer Töpferfrau Bertha Gütten hat von 1932 bis 1946 Tagebücher geführt. Sie zeigen das Bild einer tiefreligiösen Frau, die scharfsinnig Dorfleben und Zeitgeschehen beobachtete.

 Die große Familie war ihr besonders wichtig: Bertha Gütten sitzt mit acht ihrer insgesamt 22 Enkelkinder auf der Wiese.

Die große Familie war ihr besonders wichtig: Bertha Gütten sitzt mit acht ihrer insgesamt 22 Enkelkinder auf der Wiese.

Foto: Privat

An den Ostertagen konnte Bertha Gütten viele Kirchgänge in ihrem Tagebuch notieren. Bei 14 Kindern kam einiges zusammen. Von 1932 bis kurz vor ihrem Tod 1946 dokumentierte die Adendorfer Töpferfrau mit ihren Aufzeichnungen nicht nur die Frömmigkeit der Familie, sondern auch Dorfalltag, Geschäftliches und Zeitgeschichte. Enkel Theo Gütten aus Rheinbach-Niederdrees hat die Tagebücher seiner Großmutter abgeschrieben: 600 Seiten Text ergeben ein Zeitdokument von unschätzbarem Wert.

Ein kleines Kriegstagebuch seines Vaters hatte Theo Gütten neugierig auf die Familiengeschichte gemacht. Er sichtete die Tagebücher seiner Großmutter, die in einem kleinen Reisekoffer die Jahrzehnte überdauert hatten, bewahrt erst von seiner Tante Martha, dann von seiner Cousine.

"Ohne diese Sorgfalt wären die Tagebücher längst in Vergessenheit geraten", sagt Gütten. Anfangs hatte er Mühe, die alte Schrift in den Heften und Kassenbüchern zu lesen. Bertha Gütten hatte die Seiten eng mit Tinte beschrieben, wo immer sie Platz fand.

Aus ihrem Lebenslauf: Sie wird am 16. September 1883 als achtes Kind von Johann und Margareta Corzelius in Adendorf geboren, die Eltern haben eine Steinzeugfabrik und Landwirtschaft. Der Vater stirbt, als Bertha sechs Jahre alt ist. Eine schwere Zeit beginnt. Die Tochter berichtet, dass selbst am Sterbetag Pacht an die Adendorfer Burgherrn gezahlt werden musste. "Als ich nun die Schule fertig hatte, tat ich Kinder hüten. Dann lernte ich nebenbei henkeln und blauen bei Mutter." Die Töpfe mit Henkeln zu versehen und zu bemalen, ist Aufgabe der Frauen in den Töpferwerkstätten.

Bertha Corzelius arbeitet auch für "Fremde" in Friesdorf, für den Direktor der Beueler Jutespinnerei und in einem Weinrestaurant. "Aber immer das Heimweh zu der Mutter", schreibt sie. Zurück in Adendorf lernt sie Peter Gütten kennen, den sie am 15. Juli 1905 am Kirmessamstag in der Adendorfer Pfarrkirche heiratet.

Sie kaufen ein kleines Haus und gründen unter großen Mühen und dem Widerstand der Konkurrenz eine eigene Töpferei. Den ersten "Brand machen" sie am 28. April 1906, einen Tag später wird der erste Sohn geboren. Dann kommt fast jedes Jahr ein weiteres Kind.

Beim Abtippen der Tagebücher entstand für Enkel Theo Gütten Stück für Stück das Bild einer charakterstarken, ungewöhnlichen Frau. "Sie war sehr religiös und sehr familienbewusst", sagt er. Genau ist vermerkt, wer wen besuchte, wer krank war und wer welche Arbeiten verrichtete. Das Leben war beschwerlich, neben der Töpferei musste sich die Familie auch noch mit Landwirtschaft selbst versorgen. Es geht immer wieder um alltägliche Dinge: Reicht das Geld für die Glasur des Steinzeugs, woher kommt das Holz für den Brennofen, was kostet ein Liter Milch? Man fragt sich im Rückblick: Woher nahm die Frau die Zeit zum Schreiben?

Bertha Gütten war gut informiert. Sie hörte Radio und interessierte sich für alles, was im Dorf und in der Welt passierte. Sie schreibt vom Absturz des Zeppelins in Amerika, notiert Wahlergebnisse, berichtet von Hunger und Flüchtlingsströmen und äußert sich immer wieder kritisch über Hitler. Ihre Kinder haben 15 Seiten des Tagesbuchs herausgeschnitten, wohl aus Angst, die Mutter könnte Schwierigkeiten bekommen.

Die Töpferfrau kannte sich auch mit Kneipps Heilmethoden aus und laborierte selbst an "Herzasthma". "Ich bin arm dran", schreibt sie. Mitfühlend war sie auch bei anderen, was man an vielen Einträgen über Not und Elend während des Zweiten Weltkriegs sieht. "In Norwegen muss es schlimm zugehen, wer mag alles gefallen oder ertrunken sein oder da begraben werden? Arme Soldaten", schreibt sie im April 1940. Nur für gottloses Verhalten hatte sie kein Verständnis. Böses über andere kam nicht aus ihrer Feder, sondern Stoßgebete und Segenswünsche, wenn das Schicksal wieder unbarmherzig zugeschlagen hat. Und immer wieder: "Gott sei Dank."

"Sie hat ihre Sorgen komplett runtergeschrieben", so der Eindruck von Theo Gütten. Außerdem fand sie Trost in ihrem unerschütterlichen Glauben. "Bei Fliegeralarm hat sie sich hinter einer Säule versteckt und die Messe weiter gefeiert", berichtet der 66-Jährige, der noch ein Weihwasserkännchen und viele weitere Stücke aus dem Töpferbetrieb besitzt. "Ich war viel in Adendorf und durfte den Ofen anstochern", erinnert sich Theo Gütten an seine eigene Kindheit.

Durch die Tagebücher ist der ehemalige Buchhalter von Bilfinger Berger wieder mit etlichen Verwandten in Kontakt gekommen und hat zahlreiche historische Fotos gesammelt. Die Aufzeichnungen seiner Großmutter hat er in kleiner Auflage für die Familie drucken lassen. Ein Exemplar soll ins Kreisarchiv nach Siegburg, damit der Schatz der Bertha Gütten gesichert ist.

Aus dem Tagebuch

600 Seiten voller detailreicher Beobachtungen lassen sich nicht zusammenfassen. Die folgenden Zitate aus den Tagebüchern zeigen aber, wie Ton und Stil von Bertha Gütten waren.

  • 30. März 1934: Carfreitag und staatlich verboten zu arbeiten. Wie backen wir etwas? Der Denessen schickt kein Geld. Schon wieder Hoffnung ärmer.
  • 1. April 1934: Ostern. Ein schöner Tag, nur daß Leo und Josef (Anm. der Red.: gemeint sind zwei ihrer Söhne) nicht ihr Osterfest gehalten haben, hätte mich so gefreut. Hüffels Kind vom Auto, Arzt aus Frankfurt a.M., leicht verletzt worden. Der Vater ist mit Kind und Doktor zum Doktor Dolff Meckenheim gefahren. Bertha kam Mutter aus der Frauenstunde rufen, ein Herr und 2 Damen waren hier aus Köln und wollten 12 Meter Kasten Blumen kaufen. (...) Der Josef und der Leo sollten beichten gehen, gehen aber nicht.
  • 16. April 1939: Weißer Sonntag: 16 Kinder gehen zur hl. Kommunion, zuerst an der Pasterat abgeholt, vor der Schule verboten abzuholen, schlimm. Von Meckenheim Kaplan Holitor haben sie abgeführt, wohin? Armer Mann, was mag er leiden. O, Maria hilf.
  • 1. September 1939: Verhängnisvoller Tag! Der Krieg ist da. (...) Liebe Mutter Gottes, beschütze uns alle. In Selbachs Keller müssen wir gehen mit Gasmasken. Der Hitler hat gesprochen 3/4 Stunde. Er sagt nun um viertel vor sechs hätten sie zuerst Danzig erobert und der Luxemburger Sender sagt um 4 Uhr. Wer lügt?
  • 2. Januar 1940: In der Türkei die großen Erdbeben. 80 000 Menschen verunglückt, Herr erbarme dich unser aller, schau nicht auf unsere Sünden.
  • 18. Januar 1940: Theo, Bertha und kl. Sophia kamen des Mittags in all der Kälte, denn 18 Grad haben wir. Leo nach Bonn wegen 50 Meter Birkenholz. Die Soldaten hatten Varieté. Mädchen mit nackten Beinen hätten getanzt, schlimm.
  • 21. Januar 1940: Schrecklich viel Schnee gefallen und noch immer schneit es den ganzen Tag, soviel Schnee habe ich noch nie gesehen und bin jetzt 56 Jahre alt. Hitler, was hast du aus der Jugend gemacht? Furchtbar wird dein Verantworten beim Herr Gott sein.
  • 8. April 1946: Arg krank. Es sollte gehen, konnte nicht stehen, so bummelig, so krank. (Anm.: acht Tage später starb Bertha Gütten)
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