Wenn die Bilder im Kopf nicht mehr passen

Die 99 Tage zwischen Tat und Urteil werden zur Gratwanderung zwischen Mitleiden und Berichten

Bonn. 99 Tage liegen zwischen Tat und Urteil. Zwischen einem Ereignis, das heute immer noch unbegreifbar erscheint, und der Strafe, die nur ein Versuch sein kann, die Welt wieder ins Lot zu bringen.

Für Hannahs Eltern, ihre beiden Schwestern und Angehörigen, ihren Freund und ihre Clique wird die Waage der Justitia niemals im Gleichgewicht stehen. "Es fehlt eine aus unserer Mitte", sagte Hannahs Vater beim Prozess.

Alle Familienmitglieder befinden sich in therapeutischer Behandlung, die Eltern können bis heute nicht in ihren Berufen arbeiten, die Schwestern fehlen häufig in der Schule. Eine Schwester, die in den Sommerferien von der Jugenddorf-Christophorusschule auf eine andere Schule gewechselt war, kehrte aufs CJD zurück, weil hier offener und bewusster mit Hannahs Tod umgegangen wurde.

Das eigene Empfinden erscheint da eher als vernachlässigbare Größe. Doch in einem solchen Moment ist der Beruf des Berichterstatters auf einmal nicht mehr nur Beruf. Die Grenzen zwischen Professionalität und Anteilnahme sind mit einem Schlag weggewischt.

Die vertraute Buslinie, die Haltestelle, an der das Mädchen in den Bus stieg, nahe der eigenen Wohnung, die Bekannten, die Hannah kannten, der Tatort am täglichen Weg zur Arbeit - so nah kann der Abgrund sein, der trotz aller medialer Überflutung im Kommunikationszeitalter doch in der Regel so beruhigend weit entfernt scheint.

CJD-Schüler und ihre Eltern erhielten in dieser Woche Fragebögen mit dem Thema "Veränderung des subjektiven Sicherheitsgefühls in Königswinter nach einem Kapitalverbrechen". Hinter dem Projekt stehen die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und die Polizei des Landes NRW in Zusammenarbeit mit dem Bonner Polizeipräsidium. Die Eltern werden dort zum Beispiel gefragt, ob sich der Schulweg ihrer Kinder seit dem Mord an Hannah verändert habe.

Auch die Zufriedenheit mit der Arbeit der Polizei bei der Aufklärung des Mordes und der Ergreifung des Täters wird untersucht. Eine weitere Frage lautet: "Glauben Sie, dass Sie sich jemals wieder genauso sicher fühlen können wie vor dem Mord an Hannah?" Gibt es auf diese Frage eine Antwort? Seit der Täter sein Geständnis ablegte, ist es schließlich beunruhigende Gewissheit: Es hätte auch das eigene Kind sein können, die 14-jährige Hannah war ein Zufallsopfer.

99 Tage lang hat Zdenek H. bisher Zeit gehabt, über seine Schuld nachzudenken. Wenn man dem psychiatrischen Gutachter und seinem Verteidiger Uwe Krechel Glauben schenken darf, hat er das getan.

Selten wollen sie einen Mörder erlebt haben, der sich nie nach dem eigenen Schicksal erkundigte, jedoch immer wieder nach Hannahs Familie. "Hätte er darüber vorher mal eine Minute nachgedacht", soll die Reaktion von Hannahs Vater gewesen sein, wie die Anwältin der Familie, Gudrun Roth, beim Prozess berichtete.

Was muss der Täter, der eine 14-Jährige vier Stunden lang quält und sie schließlich auf grausame Weise tötet, für ein eiskalter, roher Mensch sein? Wie malt man sich den Mann, dessen Tat einen seit drei Monaten verfolgt, aus? All diese Bilder sind hunderte Male im Kopf abgelaufen.

Doch dann wird ein schüchterner junger Mann in den Gerichtssaal geführt, der sein Gesicht in den Händen verbirgt und mit leiser Stimme sein Geständnis wiederholt. Er passt überhaupt nicht ins Bild. Dann berichten der psychiatrische Gutachter und der Pflichtverteidiger auch noch, der angeblich kaltblütige Mörder habe Emotionen gezeigt, sogar Reue. Sie liefern Erkenntnisse, die bis zum Prozess kein Thema waren. Und die zur Zufälligkeit des Opfers die der Tat hinzu kommen lassen.

Für Entsetzen unter den Prozessbeobachtern sorgt nicht der Angeklagte, sondern sein homosexueller früherer Freund mit der Bemerkung, bei einem Jungen hätte ihn die Tat mehr berührt als bei einem Mädchen. Auch schilderte er, wie er jeglichen Kontakt von Zdenek H. zum anderen Geschlecht verhindert hätte.

Und es stellt sich die Frage: Ist auch der Täter ein Stück weit Opfer? Kann man die Tat vom Täter treten, fragte sein Anwalt Uwe Krechel. Wenn ja, müsste das Gericht darüber nachdenken, ob wirklich eine besondere Schwere der Schuld vorliege. Weiter könnte man fragen: Kann man den Täter auch von den Folgen seiner Tat für Hannahs Familie trennen? Das eigene Rechtsempfinden sperrt sich da.

Umso bemerkenswerter ist, dass am zweiten Tag des Prozesses, während der Vater in den Zeugenstand trat, in Hannahs früherer Klasse der Unterricht unter der Überschrift "Die Würde des Menschen ist unantastbar" stand. Gemeint war damit ausdrücklich nicht nur die Würde des Opfers, sondern auch die Würde des Täters. Wohl wissend, dass Eltern und Freunde ein Urteil niemals als gerecht empfinden können, ein Gericht aber nicht emotional urteilen darf.

Hannahs Vater hat auf äußerst eindrucksvolle Art reagiert. Mit keinem Wort erwähnte er den Täter, mit umso mehr Worten aber seine Tochter. Für die Familie wird sie immer dazu gehören, für die Beobachter im Gerichtssaal wurde sie zumindest für einige Minuten vorstellbar. "Sie war voller Phantasie, Lebenslust und Lebenshunger", schilderte ihr Vater Hannah. Wohl jeder im Saal richtete in diesem Augenblick seinen Blick ins Leere. Einen Fernsehauftritt, der an ihn herangetragen wurde, lehnte der Vater ab. Er hatte alles gesagt.

Die Strafe für Zdenek H. wird Hannahs Familie zur Kenntnis nehmen, ihre Herzen wird sie nicht heilen können. Den Schmerz lindern kann nur das Umfeld, das der Familie bereits in den zurückliegenden Wochen zur Seite gestanden hat.

Die Familie hat das offensichtlich auch so empfunden, wie sie in ihrer Todesanzeige zum Ausdruck brachte: "Dein strahlendes Sein lebt weiter: in den unzähligen Gesten und Zeichen der Empathie, in der menschlichen Wärme, die uns kräftigt und begleitet. Das gibt dir Würde und Ehre zurück."

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