Gewaltspirale in Frankreich Deswegen waren die Ausschreitungen vor dem FC-Spiel kein Einzelfall

Analyse | Paris · Die Ausschreitungen beim Spiel des 1. FC Köln gegen Nizza sind kein Einzelfall in Frankreich. Krawalle sind seit gut einem Jahr in in den französischen Fußballstadien an der Tagesordnung. Die Gründe dafür liegen in fehlender Fanarbeit und einer veralteten Polizeistrategie.

1. FC Köln: Deswegen waren die  Ausschreitungen in Nizza kein Einzelfall
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Es war ein Moment, auf den die Fans anderthalb Jahre lang gewartet hatten: Im August 2021 öffneten nach einem besonders harten Corona-Lockdown in Frankreich endlich wieder die Fußballstadien. Die Begeisterung war groß, die Disziplin dagegen schwach. Gleich in den ersten Wochen kam es zu bösen Szenen. So wurde Dimitri Payet beim Spiel von Olympique Marseille gegen OGC Nizza von einer Flasche getroffen und ging zu Boden. Als der ehemalige Nationalspieler seinerseits Flaschen Richtung Zuschauertribüne warf, stürmten Fans den Rasen und prügelten sich. Das Spiel wurde abgebrochen, von der „Schande von Nizza“ war die Rede.

Doch Schlägereien auf dem Spielfeld wurden schnell zur neuen Normalität. Als Payet Wochen später erneut das Ziel einer Flaschenattacke wurde, diesmal im Spiel gegen Lyon, fragte er in einem offenen Brief genervt: „Soll ich aufhören, Ecken zu stoßen? Soll ich aufhören, Fußball zu spielen? Sagt es mir!“

Netze in Risikospielen

Die Regierung berief ein Krisentreffen ein, bei dem neue Maßnahmen gegen die Fangewalt beschlossen wurden. So ist der Verkauf und die Mitnahme von Flaschen jeder Art seit dem 1. Juli verboten. Bei Risikospielen sollen zudem Netze aufgespannt werden, um Wurfgeschosse abzufangen. Vereine wie Lyon, Marseille oder Nizza sind besonders von Randalen der Fans betroffen, die es auch schon vor der Covid-Pandemie gab. „Man kann die gewalttätigen Individuen nicht in eine bestimmte sozio-professionelle Kategorie einordnen“, sagt der Sportsoziologe Ludovic Lestrelin. Die Aggressoren kämen nicht nur aus sozial benachteiligten Familien, sondern auch aus der Mittel- und Oberschicht. Gemeinsam sei ihnen, auf Auseinandersetzung mit anderen jungen Männern aus zu sein, um ihre Überlegenheit zu beweisen. So entstehe eine Dynamik aus Gewalt und Gegengewalt, die nur schwer zu durchbrechen sei.

Von einer generellen Radikalisierung der französischen Fans will Lestrelin aber nicht sprechen. Er sieht eher eine Abfolge von gewaltsamen Zwischenfällen, die häufig mit der schlechten Organisation der Spiele zusammen hängt. Vor allem vor der Wiederaufnahme des normalen Spielbetriebs nach der Pandemie sei von den Verantwortlichen zu wenig getan worden, um die Rückkehr in die Stadien vorzubereiten. „Es herrschte eine Art der Leichtigkeit.“

Auch Ausschreitungen beim Champions-League-Finale

Der Präsident des französischen Fußballligaverbands LFP, Vincent Labrune, wies dagegen den Fans die alleinige Schuld an den Ausschreitungen zu. „Es gibt in unseren Arenen Kriminelle. Man muss sie aus den Stadien verbannen“, forderte Labrune im Juni laut der Zeitung „Le Monde“. „Ich will als Präsident keinen Todesfall im Stadion erleben. Wir wollen die Liga der Weiterentwicklung sein und nicht die Liga des Krieges.“

Seine Wutrede konnte die Gewaltszenen allerdings nicht stoppen. Anfang September wurden 32 Menschen verletzt, als vermummte Kölner Fans, unterstützt von Ultras von Borussia Dortmund und PSG, bei einem Spiel der Conference League mit herausgerissenen Sitzen und Eisenstangen auf Fans von Nizza losgingen. Ein Pariser, der an der Seite der Kölner unterwegs war, stürzte fünf Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer. „Wir haben genug davon, dass unser Sport so beschmutzt wird, dass man nicht mehr mit seinen Kindern auf ruhige und sichere Art und Weise ein Stadion besuchen kann“, empörte sich Sportministerin Amélie Oudéa-Castera hinterher.

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Die 44-Jährige hat seit ihrer Ernennung im Mai einen schweren Job. Nach ein paar Tagen im Amt musste sie vor der Weltpresse bereits das Fiasko des Champions League-Finales im Stade de France kommentieren. Zur Erinnerung: Beim wichtigsten Finalspiel des Jahres war die Organisation so schlecht, dass die Fans nicht rechtzeitig ins Stadion kamen. Die Begegnung zwischen dem FC Liverpool und Real Madrid konnte deshalb erst mit einer guten halben Stunde Verspätung beginnen.

Auch Polizisten setzen auf Konfrontation

Innenminister Gérald Darmanin machte britische Fans, die ohne Eintrittskarten ins Stadion wollten, für das Chaos verantwortlich. Doch schnell zeigte sich, dass die unter seiner Oberaufsicht stehende Polizei der Situation nicht gewachsen war. Auf zahlreichen Videos ist zu sehen, wie Polizistinnen und Polizisten blindwütig gegen friedliche britische Fans vorgingen, denen sie Tränengas ins Gesicht sprühten. Sogar vor Kindern und alten Leuten machten die Beamten nicht halt. Die Polizei war an jenem Abend mit 2000 Kräften im Einsatz. Genug also, um die Fußballbegeisterten in Schach zu halten. Doch die Polizistinnen und Polizisten setzten vor allem auf Konfrontation. „Die französische Polizeistrategie hinkt der nordeuropäischer Länder, vor allem Deutschlands, hinterher“, sagt Lestrelin. Fanarbeit und Deeskalation gehören nicht zum Instrumentenkasten der „Flics“, die auch bei Demonstrationen schnell Tränengas und die in Europa weitgehend geächteten Gummigeschosse einsetzen. Während der Proteste der Gelbwesten 2018 wurden Dutzende Menschen durch die Geschosse verletzt, einige verloren ein Auge.

Die Fangewalt ist nicht von den Spannungen zu trennen, die sich in der stark gespaltenen französischen Gesellschaft zeigen. „Man kann den besonders angespannten sozialen Kontext nicht ausblenden“, bemerkt Lestrelin. Vor allem nicht, wenn die Spiele in Problemvorstädten wie Saint-Denis ausgetragen werden. In der Banlieue im Norden von Paris, wo das Stade de France liegt, sind Armut und Arbeitslosigkeit höher als im Rest des Landes. Hunderte kriminelle Jugendliche versuchten hier laut Polizeipräfektur bereits vor dem Champions-League-Finale, mit Gewalt durch die Sperren zu gelangen. Nach dem Match überfielen Jugendgangs englische und spanische Fans und klauten Smartphones, Uhren und Geldbeutel.

Bei den Olympischen Spielen, die 2024 in Paris ausgetragen werden, finden auch einige Wettbewerbe in Saint-Denis statt. Dass es dann erneut zu Überfällen durch Jugendliche kommt, will Lestrelin nicht ausschließen. Randale wie beim Fußball seien bei den Olympischen Spielen allerdings nicht zu erwarten. „Die Soziologie des Publikums ist eine ganz andere.“

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