Viele Fragen unbeantwortet Hätten die Krawalle in Nizza verhindert werden können?

Analyse | Köln · Die Ausschreitungen in Nizza werfen viele Fragen auf. Von unzureichenden Sicherheitskontrollen und ignorierten Warnungen ist die Rede. Möglicherweise hätte viel verhindert werden können.

Beim UEFA Europa Conference League zwischen Nizza und dem 1. FC Köln war es am Donnerstag zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen.

Beim UEFA Europa Conference League zwischen Nizza und dem 1. FC Köln war es am Donnerstag zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen.

Foto: dpa

Steffen Baumgart wirkte nach dem Vormittagstraining am Freitagnachmittag angeschlagen. Die kurze Nacht in Nizza hatte bei dem 50-Jährigen Spuren hinterlassen. Kein Wunder, das Debakel aus dem Europapokal-Spiel des 1. FC Köln bei OGC Nizza hatte zum Teil unmittelbar vor seinen Augen stattgefunden. „Man kann nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir sind selbst in der Aufarbeitung. Ich glaube nicht, dass das so schnell geht“, sagte der 50-Jährige. „Wut und Fassungslosigkeit treffen es ganz gut, wie es in mir vorgeht, wenn ich die Bilder sehe.“

Und die Bilder hatte der Trainer gemeinsam mit seiner Familie aus nächster Nähe gesehen. Denn nach der Gelb-Rot-Sperre aus dem Fehérvár-Spiel war der Kölner Coach gezwungen, das Spiel von der Tribüne aus zu verfolgen. Die hässlichen Szenen spielten sich direkt vor seinen Augen ab. „Was ich erlebt habe, war einfach nackte Gewalt. Es ging nur darum, Leuten zu schaden“, so Baumgart, der sogar auf die Gewalttäter beruhigend einwirken wollte. „Ich habe es einmal versucht, aber das war nicht möglich. Die Jungs, die dann hochgeguckt haben, haben durch mich durchgeguckt. Da war nichts mehr, was man hätte selbst machen können“, sagte der Kölner Coach. „Das ist beängstigend, wenn man da oben dann dicht dran steht. Meine Familie war dann noch auf den Sitzen, an denen sie vorbeigelaufen sind.“

Auch aus der Ferne waren die brutalen Bilder der sinnfreien Prügelei kaum zu ertragen. Fans schlugen mit Stangen, Flaschen und Sitzen aufeinander ein. Es flogen Bengalos, ein Fan stürzte rücklings vom Mittel- in den Unterrang und zog sich mindestens ein Schädeltrauma zu. Fast zehn Minuten prügelten sich die vermeintlichen Fans, bevor die Polizei Herr der Lage wurde und die Tribünen räumte. „Die Menschen sind sicherlich dem Hooligan- oder gewaltaffinen Ultraspektrum zuzuordnen. Es gab von beiden Seiten entsprechende Angriffe“, sagte Fanforscher Jonas Gabler dem GA im Interview. „In diesen Spektren ist es nicht ungewöhnlich, dass es Auseinandersetzungen gibt. Es ist aber eher selten, dass so etwas im Stadion passiert.“ Tatsächlich werfen die Vorkommnisse im, aber auch vor dem Stadion, zahlreiche Fragen auf. Denn schon vor dem Spielbeginn war es außerhalb des Stade de Nice zu ersten Auseinandersetzungen gekommen. Augenzeugen berichteten dem GA, dass Nizza-Anhänger auf Kölner Fans losgegangen seien, schon dort Pyrotechnik flog und es auch zu Messerstechereien gekommen sei.

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1. FC Köln: Lasche Sicherheitskontrollen in Nizza

Die Augenzeugen erzählten zudem, dass sie lasch oder gar nicht kontrolliert worden seien. Es habe auch keine Ordner gegeben, die die Plätze, geschweige denn die richtigen Blöcke kontrolliert hätten. „Es gab kaum Ordner, die auf die Tickets geguckt haben. Man konnte im Grunde in jedem Block sitzen“, berichtete ein Fan dem GA. „Für mich stellt sich die Frage, warum so etwas im Stadion passiert. Da müssen sich auch der gastgebende Verein und der Sicherheitsapparat Fragen gefallen lassen, wie diese Gruppierungen überhaupt aufeinandertreffen konnten“, sagt Gabler. „Das soll natürlich keine Entschuldigung für das Fehlverhalten sein. Aber die Veranstalter und die Sicherheitsbehörden haben da auch eine Verantwortung.“ Zudem sollen Absperrungen zwischen den Fanblocks gänzlich gefehlt haben.

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Dabei hatten die Kölner Verantwortlichen nach eigener Aussage bei der obligatorischen Sicherheitsbesprechung die Behörden vor Problemen gewarnt. „In dem Kontext haben wir darauf hingewiesen, dass wir ein deutlich höheres Polizeiaufkommen für angemessen erachten und dass wir eine deutlich bessere Fan-Trennung für wichtig erachten, weil bekannt ist, dass es rivalisierende Lager gibt“, sagt FC-Sportdirektor Christian Keller. „Wir haben darauf hingewiesen, dass die vermummte Fan-Gruppe von Paris Saint-Germain wahrscheinlich kommen werde und entsprechend Vorschläge gemacht, wie man denen Herr werden könnte. Im Ergebnis wurden die Vorschläge größtenteils nicht wahrgenommen.“ Die Augenzeugen hatten das Gefühl, der französische Sicherheitsapparat habe die Masse an FC-Fans falsch eingeschätzt. Eigentlich kaum vorstellbar, denn die Reisebereitschaft der Kölner Anhänger dürfte spätestens seit den beeindruckenden Szenen aus London von 2017 bekannt sein.

1. FC Köln: Pariser Ultra-Gruppierung seit 2010 verboten

Keller betonte unterdessen noch einmal, dass es sich bei den Aggressoren nicht nur um FC-Anhänger handelte. „Die, die da gestern weit voran gegangen sind, waren teilweise nicht mal Menschen aus Köln. Da waren sicherlich auch Kölner dabei, aber auch Leute aus Paris und nach meinem Kenntnisstand auch aus anderen Städten. Die haben mit dem FC erst einmal gar nichts zu tun“, so der Sportdirektor. Tatsächlich hatten sich Gruppierungen aus Paris gemischt, dem Vernehmen nach waren auch Fans des BVB beteiligt. „Die Freundschaft zwischen Köln und Paris besteht bei den Ultragruppen. Das ist nicht ungewöhnlich. Fast alle Gruppen haben freundschaftliche Beziehungen“, sagt Gabler. „Man besucht sich im Grunde bei den Spielen gegenseitig. Wenn der FC in Frankreich spielt, ist es naheliegend, dass die Ultras aus Paris zu so einem Spiel kommen.“ Die Gruppierung „Supras Auteuil“ ist in Frankreich aufgrund von Gewalttaten, bei denen ein Mensch ums Leben gekommen ist, seit 2010 verboten. Sie pflegt eine Fan-Freundschaft zu FC-Fans, rivalisiert aber mit Nizza-Anhängern. Auch Gruppierungen aus Marseille sollen dabei gewesen sein und die OGC-Fans unterstützt haben.

Während Keller nur von einer kleinen Anzahl gewaltbereiter Köln-Sympathisanten spricht, macht die Präfektur in Nizza für die Ausschreitungen vor allem die deutschen Fans verantwortlich und erklärt zudem, dass der Einsatz von 650 Polizisten und 600 Ordnungskräften „dem Risikopotenzial der Begegnung angemessen gewesen“ sei. „Es ist deplatziert zu fragen, wer war schuld oder wo hat es angefangen. Wir müssen festhalten, dass solche Gewaltexzesse nirgendwo hingehören. Jetzt geht es darum, die auf beiden Seiten ausfindig zu machen, die daran beteiligt waren“, sagt Keller. „Wir werden jeden versuchen, zu identifizieren. Dann kommt der- oder diejenige in kein Fußballstadion mehr rein. Zumindest nicht in unseres.“

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