DFB-Elf vor Portugal Löws Plan mit Kimmich

Bonn · Die Nationalmannschaft ist im wichtigen zweiten Vorrundenspiel gegen Portugal deutlich mehr in der Offensive gefordert. Joshua Kimmich kommt dabei eine besondere Rolle zu. Nur wo?

 An den Rand gedrängt: Joshua Kimmich in der Partie gegen Frankreich.

An den Rand gedrängt: Joshua Kimmich in der Partie gegen Frankreich.

Foto: AP/Franck Fife

Es gibt nicht viel, was Leroy Sané wirklich die Haare zu Berge stehen lässt. Zumindest sind Details über persönliche Frustentladungen nicht überliefert. Die Natur hat es allerdings so verordnet, dass sein Haupt dem des Struwwelpeters nicht ganz unähnlich ist. Eine gewisse Gelassenheit umgibt den Nationalspieler in seinem Auftreten. Selbst das falsche Aussprechen seines Namens registriert er mit einem müden Lächeln. „Es gibt viele, die Sane (wie die Sahne, d. Red.) sagen“, erzählte er einmal. Das aber mache ihm nichts aus. Manchmal aber, da kann auch er nicht aus seiner Haut, dann regt sich in ihm schon mal der Widerstand. Penetrante Einmischung in seine Belange behagen ihm nicht. „Der Nervigste war Joshua Kimmich“, sagte Sané vor einiger Zeit. „Der hätte mich am liebsten jeden Tag angerufen.“ Selbstredend war das nicht ernst zu nehmen, als der Tempo-Techniker über seinen Wechsel zum FC Bayern im vergangenen Sommer sprach, den Kimmich mit seiner beharrlichen Art offenbar mit initiiert hatte. Sané lächelte dabei verschmitzt.

Aber seine Aussage beinhaltet viel Wahres. Kimmichs Ansagen können mitunter eine sehr innervierende Grundierung haben. Seine Mitspieler können ganze Arien davon singen, wenn er ihnen nach Partien Nachrichten schickt, um sie anzutreiben, manchmal lobend, manchmal schimpfend. Dass Kimmich selbst nach der Niederlage gegen Frankreich vermehrt auf sein Handy schauen musste, wenn mal wieder eine Nachricht eines Mitspielers aufblinkte, ist nicht wahrscheinlich. Was hätten sie auch schreiben sollen? Etwa: „Gekämpft hast du ja wie immer. Aber irgendwie auch den Eindruck erweckt, du seist am falschen Platz, da draußen am rechten Rand.“ Und dann hätten sie noch hinzufügen können: „Komm jetzt!“. Mit solchen Hashtags versieht jedenfalls Kimmich seine Beiträge in den sozialen Netzwerken mit Vorliebe. „Hungriger als ein Krokodil“ ist da auch schon mal zu lesen.

Löw hat ein Überangebot im zentralen Mittelfeld

Bei der Auftaktniederlage gegen titanische Franzosen allerdings wirkte der Münchner zwar bissig, aber irgendwie wie ein Kaiman der sich in den Rhein verirrt hat. Er fand sich nicht zurecht dort draußen im falschen Gewässer, sein Revier im Zentrum durften andere bespielen. Jochim Löw hatte dort Toni Kroos und Ilkay Gündogan platziert. Er verfügt ja ein Überangebot im zentralen Mittelfeld, in dem sich zudem in der Partie am Samstag gegen Portugal (18 Uhr/ARD und MagentaTV) der gegen die Franzosen noch angeschlagene Leon Goretzka wieder einfinden könnte. Der Bundestrainer entschied sich bei seiner Rollenwahl für die Variante, Kimmich auf die rechte Seite zu schicken, manche behaupten: zu degradieren, um im zentralen Maschinenraum auf keinen aus seinem sehr ballsicheren Duo Kroos/Gündogan verzichten zu müssen. Löw hätte natürlich auch Rechtsverteidiger Lukas Klostermann auf die rechte Seite schicken könne, diese Option ließ er aber verstreichen aus Mangel an Zutrauen in den Leipziger. Also drängte er Kimmich sanft in diese Rolle, die er bei den Bayern – und in der Nationalmannschaft – schon früher ordnungsgemäß abarbeitete.

Der Münchner selbst füllte diese im braven Gehorsam zwar aus, ließ aber erkennen, dass der Platz in der Mitte ihm deutlich mehr behagt. Emsig wie immer und mit Hunderten Flankenversuchen, ließ er dennoch die Frage aufkommen: Wo ist nur dieser Starkstrom-Stratege aus dem zentralen Elektrizitätswerk geblieben? Er mühte sich zwar gegen Lucas Hernandez, rückte aber beim Gegentreffer – wohl aus alter Gewohnheit – zu weit in die Mitte ein und ließ seinen Bayern Kollegen scharf flanken. Den Rest erledigte Mats Hummels.

Im Zentrum, seinem natürlichen Lebensraum, hätte Kimmich der Mannschaft ein viel wertvollerer Unterstützer sein können als in diesem sumpfigen Randgebiet. Die Mannschaft gewänne so mehr Antriebskraft und einen Mann, der entscheidende Situationen erzwingen kann. Zudem könnte er Toni Kroos entlasten, der als guter, aber unerprobter Balleroberer ebenfalls gegen seine Natur ankämpfte. Was ihn davon abhielt, das deutsche Spiel weitaus effektvoller nach vorn zu tragen.

In entscheidenden Spielen weicht Löw zurück

In der defensiven und abwartenden Grundausrichtung der Deutschen gegen die Bleus lässt sich ein Muster erkennen, das Löw gerne aus der Schublade zieht, wenn es gegen von ihm verehrte Gegner geht. Dabei entspricht dieses ja auch Löws eigener Natur nicht, der vor 15 Jahren angetreten war, dem deutschen Fußball nach Jahren des Rumpelns in ein gleißenderes Licht zu setzen. Dieses Ziel hat er erreicht. In entscheidenden Partien wie gegen die von ihm hochgeschätzen Spanier mit all ihren Iniestas, Alonsos und Xavis (EM-Finale 2008, WM-Halbfinale 2010) wich er aber zurück. Das gleiche geschah gegen die Italiener, gegen die er im EM-Halbfinale 2012 ein völlig windschiefes Konstrukt ins Rennen schickte, in dem der Spielgestalter Kroos den Spielgestalter Andrea Pirlo zu decken hatte – was natürlich völlig schief ging.

Ebenso verhielt es sich nun gegen die „Équipe Tricolore“, deren Wucht er fürchtete. Durch die defensive Statik wurde das Team seinem Mut und seiner Kreativität beraubt. Gegen Portugal soll mehr Sturm und Drang Einzug halten. „Wir müssen noch offensiver denken und noch mehr riskieren“, sagte Kimmich, „mutiger und zielstrebiger sein.“ 

Nun hat Löw zwei Möglichkeiten der Ausrichtung zur Hand. Alles umzukrempeln. Oder alles beim Alten zu belassen. Beide Lösungen sind denkbar. Als rascher Erneuerer ist der 61-Jährige jedoch nicht bekannt – für die Perspektive gegen Portugal klingt das wenig beruhigend.

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