Deutsche Nationalmannschaft vor WM-Quali gegen Rumänien Antonio Rüdiger steigt in die Weltklasse auf

Bonn/Hamburg · Einer mit Biss: Antonio Rüdiger hat sich zum Weltklasse-Verteidiger und Abwehrchef des DFB-Teams entwickelt. Auch in den anstehenden WM-Qualifikationsspielen soll er wieder eine wichtige Rolle einnehmen.

 Ein Kerl wie ein Baum: Am schnellen Antonio Rüdiger (rechts, im Duell mit dem Isländer Albert Gudmundsson) gibt es derzeit kein Vorbeikommen.

Ein Kerl wie ein Baum: Am schnellen Antonio Rüdiger (rechts, im Duell mit dem Isländer Albert Gudmundsson) gibt es derzeit kein Vorbeikommen.

Foto: AP/Brynjar Gunnarsson

Von seinen häuslichen Essgewohnheiten ist nicht allzu viel bekannt. Nur, dass Antonio Rüdiger der Knabberei nicht abgeneigt zu sein scheint, das steht spätestens seit der Europameisterschaft 2020 fest, die ja erst 2021 ausgetragen wurde. Bei diesem Turnier ließ er sich zu einer skurill-blödsinnigen Aktion hinreißen. Nicht, dass er ins DFB-Quartier in Herzogenaurach einen Koffer mit salzigem Gebäck eingeschleust und dieses massenhaft verschlungen hätte, aber seine Lust und Leidenschaft für die Knabberei ist ja nicht von der Hand zu weisen.

Natürlich ließ Rüdigers unbeholfenes Schnappen keinen Vergleich zum leidenschaftlichen Luis-Suarez-Biss bei der WM 2014 zu. Doch bedrängt gefühlt haben dürfte sich Paul Pogba schon auch beim EM-Auftaktspiel in München vor einigen Wochen. Da dürfe er mit dem Mund „nicht so an seinen Rücken hingehen“, sagte der Innenverteidiger der Nationalmannschaft nach dem 0:1 gegen Frankreich. „Gar keine Frage: Das sieht unglücklich aus.“ Tatsächlich sah es eher danach aus, als habe Rüdiger mehrfach einen Bewegungs- und Beißtest am Rücken seines Kontrahenten durchgeführt. Eine Karte sah er als Bestrafung dafür nicht, und Pogba selbst verzieh im anschließend rasch.

Antonio Rüdiger wird von Kollegen als „Krieger“ bezeichnet

Es war ein unkontrolliertes Vorgehen, das auch Rüdigers Spielweise früher in vielen Situationen kennzeichnete. Doch es zeichnet auch das Bild eines Spielers auf dem Platz, den Kollegen gerne mal als „Krieger“ (Timo Werner) bezeichnen. Rüdiger selbst steht nicht so auf „das ganze Kriegerding“. Denn so habe er immer schon gespielt, hatte er vor der Frankreich-Partie gesagt, in der er ein aggressives Vorgehen der deutschen Mannschaft angemahnt hatte. Er wählte dabei nicht das ganz erlesene Sprachbesteck, forderte eher im Staccato-Duktus eines Pep Guardiola: „Wir müssen eklig sein!“, sagte er, „nicht nur lieb, lieb, lieb und schön, schön, schön spielen. Wir müssen Zeichen setzen.“ Zeichen? Es muss ja nicht immer ein Biss sein, aber bissig wirkte das schon.

Bisweilen musste sich Rüdiger den Vorwurf gefallen lassen, seine Motivation in eine gewisse Übermotivation überführt zu haben. Das wirkte sich lange negativ auf die nötige Konzentration aus. Zu stürmisch zeigte er sich, der eine oder andere Aussetzer belastete sein Spiel. Bei Rüdiger, mal zentral, mal außen in der DFB-Abwehr eingesetzt, fühlte man sich lange an den jungen Jerome Boateng, sein Vorbild, erinnert, der sich als junger Nationalspieler selbst irgendwie immer auf dem falschen Fuß erwischte. Wenn er grätschen musste, nahm er das Sprintduell mit seinem Gegenspieler auf. Wenn es ratsam war zu sprinten, grätschte er – meistens am Ball vorbei, nicht aber am Kontrahenten.

Doch schon Hansi Flicks Vorgänger als Bundestrainer erkannte das riesige Potenzial Rüdigers. Joachim Löw ließ ihm so manches durchgehen, förderte ihn wie einen Hochbegabten, der in der Schule zu Aggressionen neigte, weil er unterfordert war. Dass er sich einmal zu einem der besten Abwehrspieler der Welt entwickeln sollte, hätten wohl nicht viele erwartet – geschweige denn er selbst –, als er als schlaksiger Bub in Stuttgart die große Bundesliga-Bühne betrat.

Gemeinsam mit Süle bildet Rüdiger eine starke Innenverteidigung

Sie alle irrten, denn mittlerweile ist Rüdiger längst gesetzt. Bei seinem Verein FC Chelsea unter Trainer Thomas Tuchel, nachdem er unter dessen Vorgänger Frank Lampard einen schweren Stand hatte, und in der Nationalmannschaft unter Flick, „Hansi“, wie ihn Rüdiger selbst nennt. Schnell, immer dicht am Mann (manchmal etwas zu dicht, siehe Bisstest), versehen mit dem exakten Timing. Auch eine ausgeprägte Kopfballstärke in Defensive und Offensive zeichnen ihn aus. Mit seiner vorangehenden Mentalität hat er sich inzwischen zum Abwehrchef und Führungsspieler entwickelt.

Dass zuletzt reichlich Lob auf ihn niederging, verwundert da nicht. Für Liverpools Abwehrchef Virgil van Dijk, der selbst zu den Besten seiner Zunft zählt, ist Rüdiger einer der stärksten Innenverteidiger überhaupt. „Es gibt viele gute Verteidiger da draußen“, sagte van Dijk. „Zum Beispiel die alte Garde mit Ramos, Silva und Piqué. Aber das Spiel hat sich entwickelt und das Verteidigen hat sich verändert. Schauen sie sich einfach Laporte (von Manchester City, d. Red.) und Rüdiger an.“ Und der englische Ex-Nationalspieler Rio Ferdinand kürte ihn zum stärksten zentralen Abwehrspieler der Premier League.

In der Kategorie Weltklasse ist er angekommen, etwas plötzlich, aber mit Nachdruck und Verve. Er persönlich fühle sich „in einer richtig guten Verfassung“, sagte Rüdiger am Dienstag nach dem Training des DFB-Teams in Hamburg, das am Freitag dort in der WM-Qualifikation auf Rumänien trifft (20.45 Uhr/RTL). In Flicks offensivem Pressingstil erkennt der Chelsea-Star Vorteile für seine Spielweise. Selbstbewusst kommt es rüber, wenn er sagt: „Für mich ist es besser, auch wenn ich hinter mir viel grüne Wiese habe. Sprinten ist nicht mein Problem.“ Mit Niklas Süle an der Seite ist so ein formidables Abwehrduo entstanden. Der Münchner sei zwar „groß wie ein Baumstamm, aber er ist schnell“, sagte Rüdiger. Und: „Er ist ein super Partner.“ Flick vertraut dem Duo, daher kann er auf Mats Hummels für die WM-Qualispiele gegen Rumänien und in Nordmazedonien noch leichten Herzens verzichten. Auch jetzt ist der Dortmunder noch nicht bei voller Leistungsstäke angelangt. Ein Problem erwächst daraus gerade ohnehin nicht. „Antonio Rüdiger und Niklas Süle machen es sehr gut“, sagt Flick.

Mehr noch: Inzwischen hat der 1,90-Meter-Hüne Rüdiger kraftvoll Einlass gefunden ins Ramos-Silva-Piqué-Universum. Der Weg dahin gestaltete sich jedoch alles andere als leicht. Rüdigers Vater ist Deutscher, seine Mutter stammt aus Sierra Leone. Sie musste wegen des Bürgerkriegs nach Deutschland fliehen. In einem Flüchtlingskiez in Neukölln wuchs er auf. Keine einfache Gegend. „Es war ziemlich hart.“ Heute ist er erwachsen. Champions-League-Sieger, ein vorzüglicher Nationalspieler. Das Durchbeißen liegt ihm eben im Blut.

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