Interview Zwanziger zu DFB: "Mehr Demut, weniger Selbstherrlichkeit"

Diez · Theo Zwanziger legte als DFB-Präsident viel Wert auf Themen wie Integration. Den Rücktritt von Nationalspieler Mesut Özil bedauert er sehr. Den deutschen Fußball sieht Zwanziger nach dem WM-Aus nicht in Gefahr. Die Verbandsspitze nimmt er aber in die Pflicht.

 Theo Zwanziger war von 2004 bis 2012 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes.

Theo Zwanziger war von 2004 bis 2012 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes.

Foto: Sebastian Kahnert

Theo Zwanziger bedauert den Rücktritt von Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft und befürchtet Konsequenzen nicht nur im Fußball.

Der frühere DFB-Präsident sieht im Deutschen Fußball-Bund die Tendenz zur Selbstherrlichkeit, die Suche nach Sündenböcken müsse aufhören, sagte Zwanziger im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Der deutsche Fußball diskutiert über Führung, Organisation und Personal. Wie sehen Sie die Arbeit der Führung des sogenannten Neuen DFB? Theo Zwanziger: Dieser seit zwei Jahren erhobene Anspruch, der "Neue" DFB zu sein, ist völlig überzogen und grenzt bewusst frühere Mitarbeiter und Führungskräfte, sowie deren Arbeit aus. Das macht man nicht in einem Sportverband, der sich dem Gedanken von Fair Play verpflichtet sieht. Denn man muss immer auch an die denken, die in diesem Verband vorher Verantwortung getragen haben. Sie fühlen sich mit solchen Methoden pauschal ausgegrenzt. Wenn ich nur an Horst R. Schmidt denke, der seit 1972 beim DFB ist und in dieser Zeit großartiges geleistet hat. Ohne ihn wäre der Verband bei weitem nicht das, was er heute ist. Das muss der heutige Generalsekretär erst einmal zustande bringen.

Mussten DFB-Chef Reinhard Grindel und sein Generalsekretär Friedrich Curtius nach der Affäre um die WM 2006 nicht einen radikalen Neuanfang starten?

Zwanziger: Nein, dafür gab es überhaupt keinen Grund. Aufklären ja, das hätte aber auch der Kontrollausschuss zügig und effektiv machen können. Dort sind sehr gute und berufserfahrene Juristen von außerhalb, die man zurückgepfiffen hat. Der Auftrag an Freshfields hat dem Ganzen eine unangemessen überhöhte Dimension gegeben, sowohl inhaltlich als auch finanziell.

Auch Franz Beckenbauer hat keinen Platz mehr in der DFB-Familie. Ein Fehler?

Zwanziger: Ja, meiner Meinung nach ein sehr großer Fehler und ich freue mich, dass Franz Beckenbauer wieder mehr von der Öffentlichkeit gewürdigt wird. Franz hat im Jahr 2002 aus seinem Vermögen eine Zahlung von zehn Millionen Schweizer Franken an den damaligen FIFA-Vizepräsidenten Mohammad bin Hamman geleistet. Ein Betrag, der ihm im April durch die FIFA zurückerstattet wurde. Der DFB hat durch sein gigantisches Aufklärungsmodell mit Freshfields dichte Nebelkerzen über alles gezogen, so dass alle möglichen Spekulationen und Zweifel denkbar wurden. Anschließend hat man sich für diesen Bericht, der sieben Millionen Euro gekostet haben soll, selbst gefeiert. Man hatte zwar Sündenböcke, aber kein Ergebnis. Die Darstellung von Franz Beckenbauer zu diesem Vorgang ist bis heute nicht widerlegt.

Der DFB hat die Aufarbeitung des WM-Skandals 2006 mit dem Freshfields-Bericht für beendet erklärt. Für sie ist er das nicht, gerade wegen des laufenden Steuerverfahrens.

Zwanziger: So ist es, aber das möchte ich im Moment nicht kommentieren.

Aktuell überlagert die Debatte nach dem WM-Aus in Russland alles. Kritisiert wird das Eigenleben der Nationalmannschaft. Hat der DFB die richtigen Strukturen, um die Krise zu meistern? Zwanziger: Ich glaube, dass die Struktur, die der DFB sich 2001 gegeben hat, auch in die heutige Zeit passt. Die Einheit des Fußballs bewahren, den Amateurfußball entwickeln und den kleinen Vereinen zu helfen, sowie die verantwortliche Selbstgestaltung der Liga über die DFL sichern, das war gestern und bleibt auch heute und morgen gültig. Die Nationalmannschaft ist in diesem Zusammenhang natürlich ein herausragendes Produkt, das eine gewisse Selbstständigkeit braucht, aber auch die Nähe zum gesamten Fußball bewahren muss.

Hat die DFB-Führung mit ihrem proklamierten Erneuerungskurs eine Mitschuld an der momentan ernüchternden Lage?

Zwanziger: Es gibt in dem vorgenannten Rahmen immer einen Modernisierungs- und Veränderungsauftrag. Aber was ist durch die großen Reformer beim "Neuen DFB" denn besser geworden? Die Nationalmannschaft ist in der Vorrunde der WM ausgeschieden, unsere Frauen spielen auch nicht mehr erfolgreich. Die Nachwuchsförderung, hat U21-Trainer Stefan Kuntz gesagt, stagniert. Was die gesellschaftliche Seite betrifft, das ehrenamtliche Engagement, Integration und vieles andere mehr, da hat die neue Struktur nichts sichtbar werden lassen. Was ist also besser geworden, außer, dass sehr viel Geld für PR, Berater und neue Mitarbeiter ausgegeben und hunderte Millionen aus dem Grundlagenvertrag vom gemeinnützigen Amateurfußball in den bezahlten Fußball gelenkt wurden?

Sportlich sprach Joachim Löw von einer gewissen "Selbstherrlichkeit"...

Zwanziger: Dieses kritische Hinterfragen, würde den neuen Führungskräften beim DFB auch einmal gut tun und vielleicht gibt es wirklich auch ein paar Landesverbandspräsidenten, die hierbei durch kritische öffentliche Fragestellungen mithelfen. Ich will kein Besserwisser sein, dafür liegt mir der deutsche Fußball und der DFB nach wie vor viel zu sehr am Herzen. Ich meine also nur bei aller Zurückhaltung: Ein wenig mehr Demut und etwas weniger Selbstherrlichkeit täte dem neuen DFB auf allen Ebenen gut.

Inwiefern sind hier auch die Landesverbände gefordert?

Zwanziger: Ich wünsche mir einfach, dass die Präsidenten der Landesverbände mehr die Stimmung und Interessenslage der 26 000 Vereine beachten und selbstbewusst und öffentlich gegenüber dem DFB-Präsidium vertreten, statt sich immer mundtot machen zu lassen. Wenn jeder merkt, dass Konflikte da sind, helfen auch auf Harmonie getrimmte Presseerklärungen nichts.

Also gibt es ein konkretes Führungsproblem im DFB?

Zwanziger: Wenn Präsidium und Landesverbände bereit sind, nicht nur den Bundestrainer und sein Team, sondern auch ihr eigenes Handeln in den letzten Jahren einmal selbst zu hinterfragen und daraus inhaltlich Konsequenzen zu ziehen, dann haben wir kein Führungsproblem. Auch die Verbandsfunktionäre fühlten sich als Weltmeister und damit unangreifbar. Das ist offenbar vorbei.

Ist es geschickt ausgerechnet Bundestrainer Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff die Aufarbeitung des WM-Desasters zu überlassen?

Zwanziger: Ich denke, ja. Der Bundestrainer ist einer der besten der Welt, er hat über jetzt fast 14 Jahre große Erfolge für den deutschen Fußball eingefahren. Er war in der Stunde der Niederlage der Erste, der sich auch selbstkritisch gezeigt hat. Ich bin sicher, er wird die Mannschaft mit den Veränderungen die notwendig sind, wieder in die Erfolgsspur bringen. Ich behaupte einfach einmal, wir werden schon im September beim Spiel gegen den neuen Weltmeister Frankreich eine ganz andere deutsche Mannschaft sehen und Grund zur Freude haben.

Was erwarten Sie von diesem WM-Bericht?

Zwanziger: Was braucht man für riesige Berichte? Ich hoffe nicht, dass Freshfields noch beauftragt werden muss. Joachim Löw hat eigentlich alles gesagt. Wir waren ein bisschen selbstsicher. Wir waren sicher, dass das klappt. Sie haben es unterschätzt, was sich bei anderen Mannschaften getan hat, und was bei uns nicht so gut war, wie wir es immer geglaubt haben. Ich habe immer gedacht, wenn es drauf ankommt, sind wir schon da. Wir haben die Mannschaft überschätzt, wie das im Erfolg so ist, nicht mehr tief genug hineingehorcht. Aber deswegen ist der deutsche Fußball nicht am Ende. Ganz im Gegenteil, es ist ein Umbruch, wir haben sehr gute junge Spieler, völlig anders als die Situation 2004, die Löw damals vorgefunden hat. Kritisiert wird auch die Vertragsverlängerung mit Löw kurz vor der WM. War die ein Fehler? Zwanziger: Ein Fehler, weiß ich nicht. Die Verlängerung ist aber sicher nicht von Löw angestrebt worden, denn er hatte ja noch einen Vertrag bis 2020. Hier war nach meiner Einschätzung ausschließlich das Interesse des Präsidenten ausschlaggebend, der kurz vor dem Bundestag den Delegierten einen vermeintlich großen Erfolg vermelden wollte. Die Hintergründe werden ja aktuell diskutiert. Der neue DFB will besonders transparent sein, vielleicht kann man ja darüber gelegentlich einmal informieren.

Die handelnden Personen sollen also eine neue Chance bekommen?

Zwanziger: Wenn man sich so verhält, wie man das erwarten kann, mit Augenmaß und Balance arbeiten und ohne Sündenbock-Theorien, sich nicht treiben lässt wie ein Schiff im Sturm, warum nicht? Vielleicht braucht man ein bisschen Reibung.

Wer könnte für diese Reibung sorgen?

Zwanziger: Der DFB hat im Jahr 2006 mit Matthias Sammer einen Sportdirektor geholt, der auch immer gleichzeitig Ersatzbundestrainer hätte sein können. Es war gut, dass zwei starke Persönlichkeiten den Leistungssport des DFB prägten. Profilierte Persönlichkeiten für die Nationalmannschaft einerseits und die Nachwuchsförderung andererseits. Da Horst Hrubesch, der seit langen Jahren für den DFB in vielen sportlichen Bereichen sehr erfolgreich gearbeitet hat, wohl das Ende seiner Tätigkeit schon angekündigt hat, wird dessen Nachfolgeregelung ein ganz zentraler Punkt sein. Aber es ist nicht meine Aufgabe hierfür Ratschläge zu erteilen.

In die Schlagzeilen geriet in DFB-Büroleiter Georg Behlau auch ein Mitarbeiter aus dem operativen Geschäft wegen seines Verhaltens nach dem Schweden-Spiel und auch wegen angeblicher Compliance-Verstöße. Wie bewerten Sie diesen Fall?

Zwanziger: Mein Eindruck ist schon, dass das Verhalten von Georg Behlau ein Stück weit zeigt, was an Selbstsicherheit bei diesem DFB Einzug gehalten hat. Aber leid tut mir auch, dass an ihm eine Art Exempel statuiert wird, und dass die Großverdiener, die die Treppe bis in höchste Höhen gefallen sind, nicht ihrer Fürsorgepflicht nachkommen. Da wird wieder ein Sündenbock gesucht. Statt die Sache über die Personalabteilung zu regeln und dann die Entscheidung bekanntzugeben, werden einzelne Sachverhalte mit mehr oder weniger Tragweite an die Medien durchgesteckt. Kein gutes Zeichen für die innere Verfassung eines so bedeutenden Verbandes. Ich kenne Georg Behlau gut. Er ist ein fleißiger und charakterlich integrer Mensch, der sehr viel für den erfolgreichen Aufbau des Büros der Nationalmannschaft geleistet hat. Jetzt hat er unter hohem emotionalen Druck einen Fehler gemacht und eine Geste gezeigt, die kann man rüpelhaft nennen, aber deswegen ist der Mensch Behlau, wie ich ihn kenne, kein Rüpel.

Zu dem Gesicht des WM-Scheiterns wurde Mesut Özil gemacht. Wie bewerten Sie nun seinen Rücktritt?

Zwanziger: Ich bin tief traurig über die von Mesut Özil getroffene Entscheidung. Wenn es zu Konflikten kommt, muss man unglaublich schnell versuchen, diese Konflikte durch Gespräche zu erledigen. Das hat der DFB vor der WM aus welchen Gründen auch immer nicht geschafft und jetzt kommt der Vorgang wieder hoch. Durch Fehler in der Kommunikation ist etwas passiert, das bei Migranten nie passieren darf: Sie dürfen sich nie als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Wenn dieser Eindruck entsteht, muss man gegensteuern. Ich kenne Reinhard Grindel und Oliver Bierhoff gut genug, um sagen zu können, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie eine solche Situation bewusst herbeiführen würden. Ich sage einmal so, ich glaube, bei (dem früheren DFB-Pressesprecher) Harald Stenger wäre das nicht passiert.

An welche Debatten erinnern Sie sich aus dem Beginn der Zeit von Özil im Nationalteam?

Zwanziger: Ich kann mich gut an die Diskussion erinnern, wie Joachim Löw ihn überzeugt hat, zur deutschen Nationalmannschaft zu kommen: Nur die Leistung zählt. Es kamen aus dem türkischen Umfeld immer die Bedenken: Wenn du dich einmal entschieden hast, nur für Deutschland zu spielen, bilde dir nichts ein – du bleibst dort immer Türke und Deutscher zweiter Klasse. Da muss man Ruhe und Sensibilität aufbringen, wenn man Konflikte, die sich nie ganz vermeiden lassen, bewältigen muss. Ich mache keine Schuldvorwürfe, weder in die eine noch in die andere Richtung, erinnere mich aber gerade in dieser Stunde an ein Qualifikationsspiel in Berlin gegen die Türkei. In dem Spiel schoss Mesut Özil zwei Tore für Deutschland und wurde von geschätzt 30 000 türkischen Migranten gnadenlos ausgepfiffen. Er hat für seine Entscheidung einiges einstecken müssen.

Befürchten Sie einen Schaden für die Integrationsarbeit des DFB und auch auf gesellschaftlicher Ebene?

Zwanziger: In dieser Arbeit spielt der DFB eine wichtige Rolle, es ist eine sehr nachhaltige und intensive Arbeit mit der Frage: Wie können wir in Deutschland zusammenleben. Die Nationalmannschaft muss für Vielfalt stehen und sich klar gegen jedwede Art von Rassismus zur Wehr setzen. Dies ist unser gesellschaftlicher und kultureller Anspruch, den wir als Lehre aus der Geschichte zwingend ziehen müssen. Ich bin sicher, dass die Führung des DFB, die sportliche Leitung und die Mannschaft dies genauso sehen. Der Rücktritt von Mesut Özil ist für die Integrationsbemühungen in unserem Land über den Fußball hinaus ein schwerer Rückschlag. Er war ein großes Vorbild für junge Spielerinnen und Spieler mit türkischem Migrationshintergrund, sich auch in die Leistungsstrukturen des deutschen Fußballs einzufinden.

Waren die Fotos von Özil und Gündogan auch im Zusammenhang mit der Bewerbung um die EM 2024 fatal für den DFB?

Zwanziger: Es war sicherlich nicht hilfreich. Das hat die politische Ebene in der Türkei, die eng mit dem Fußballgeschehen verbunden ist, zusätzlich herausgefordert.

Ist der DFB derzeit in der Verfassung für eine erfolgreiche EM-Kandidatur?

Zwanziger: Es wäre sehr, sehr schön, wenn es gelänge, dieses Turnier zu bekommen. Das wäre auch ein gutes Ziel für den Bundestrainer in der Entwicklung der Mannschaft, wenn es bei der nächsten EM in zwei Jahren noch nicht so klappen sollte. Es wird viel hinter den Kulissen gearbeitet, das ist für Grindel nicht leicht. Wir müssen deshalb den Präsidenten bei dieser Aufgabe nachhaltig unterstützen. Ich habe das Erreichen des WM-Halbfinals für viel einfacher gehalten als die EM-Vergabe. Aber wenn es nicht zu unseren Gunsten ausgehen sollte, dann haben wir letztlich alle verloren und nicht nur der Präsident.

Die Türkei bewirbt sich zum fünften Mal um eine Fußball-EM. Inwiefern kann das eine Rolle spielen?

Zwanziger: Es gibt sicher auch Gründe die Türkei zu wählen, sie ist ein Fußballland und muss sich nicht, wie Katar, erst eine Nationalmannschaft zusammenkaufen. Dieser Mitleidfaktor der vorigen erfolglosen Bewerbungen ist sicher in den Köpfen der Mitglieder des Exekutivkomitees nicht ganz wegzuwischen. Nur mit Plakaten und Broschüren wird diese EM nicht zu bekommen sein. Ich halte Herrn Grindel bei dieser sehr schwierigen Aufgabe fest die Daumen und hoffe, dass ihm und damit allen deutschen Fußballfans Erfolg beschieden ist.

Zur Person: Theo Zwanziger (73) war von 2004 bis 2012 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes. In der Affäre um die WM-Vergabe 2006 ist er der Steuerhinterziehung angeklagt. Zwanziger bestreitet die Vorwürfe.

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