GA-Serie „Best of Olympia“ Als Ringer Wilfried Dietrich zur Legende wurde

Bonn · Dem deutschen Ringer Wilfried Dietrich gelingt bei den Olympischen Spielen 1972 in München gegen den US-Amerikaner Chris Taylor ein Jahrhundertwurf.

 Spektakulärer Kraftakt: Wilfried Dietrich wuchtet US-Koloss Chris Taylor über sich hinweg auf die Matte.

Spektakulärer Kraftakt: Wilfried Dietrich wuchtet US-Koloss Chris Taylor über sich hinweg auf die Matte.

Foto: picture-alliance/ dpa/Hartmut Reeh

Das alte Fachwerkhaus ist voll mit Pokalen, Auszeichnungen und Fotos. Über knarrende Dielen werden die Besucher durch die Ausstellungsräume geführt, vorbei an Erinnerungen an glorreiche Zeiten. Und dann blicken sie mit großen Augen auf ein überdimensionales Foto, das einen deutschen Ringer bei einer Aktion zeigt, die ihn nicht nur weltberühmt, sondern zu einer Legende macht: Wilfried Dietrich. Das Bild ging um die Welt. Es zeigt Dietrich, wie er bei den Olympischen Spielen 1972 in München den 1,96 Meter großen und knapp vier Zentner schweren US-Koloss Chris Taylor umklammert, ihn mit übermenschlich wirkender Kraft nach oben hievt und mit einem artistisch anmutenden Überwurf auf die Matte schmettert – Schultersieg im Superschwergewicht, griechisch-römischer Stil.

Das Foto hing bis Ende vergangenen Jahres im 1. Deutschen Ringermuseum Schifferstadt, wo bis zur Schließung wegen eines Wasserschadens ein ganzer Raum nur Dietrich gewidmet war. Die Kamera löst in dem Augenblick aus, als der Deutsche seinen Gegner ausgehebelt hat, um ihn mit extremem Hohlkreuz über sich hinweg zu wuchten. Dietrichs Gesicht ist von Anstrengung verzerrt, die Augen weit aufgerissen. Der Gegner liegt in der Luft hilflos auf Dietrichs Brust. Die Gesetze der Schwerkraft scheinen außer Kraft gesetzt. Eine Momentaufnahme, wie sie spektakulärer nicht sein könnte. Sekunden später reißt Dietrich die Arme hoch, hüpft „wie ein Känguru“ jubelnd über die Matte, berichtet Olympia-Teilnehmer Werner Schröter. Er kämpft auf der Matte nebenan, doch er und sein Gegner halten an diesem 31. August 1972 unweigerlich inne, als die Zuschauer in der olympischen Ringerhalle vor Begeisterung toben.

Dietrichs Jahrhundertwurf, bei dem er seinen Spezialgriff anwendet, ist auch in der Entstehung legendär. „Wilfried Dietrich war überzeugt, wenn er Taylor umfassen kann, dass er ihn dann auch werfen kann. Die Frage war nur, ob er wirklich die Hände oder die Fingerspitzen zusammenbekommt, um eben zu seinem Spezialgriff zu kommen“, erinnert sich Ex-Bundestrainer Heinz Ostermann. Was liegt da näher, als es zu testen. Aber wie?

Nicht nur der Jahrhundertwurf bringt ihm den Spitznamen „Kran von Schifferstadt“ ein

Schlitzohr Dietrich weiß es. Augenzeuge Jim Peckham, damals Freistiltrainer im US-Team, erinnert sich an eine Begegnung der beiden Kontrahenten zehn Minuten vor dem Wettkampf. „Ich war ungefähr eineinhalb Meter entfernt, als es passierte. Dietrich kam zu Chris und sagte ,Chris, schön dich zu sehen‘. Anstatt eines Handschlags hat er ihn umarmt und gedrückt. Ich wollte noch dazwischengehen, doch es war zu spät“. Bekommt Dietrich erst einmal die Finger hinter dem Rücken des Gegners zusammen, dann ist er wie in einem Schraubstock gefangen und machtlos. Der Rest ist Wille und schiere Kraft. Nicht von ungefähr steht auch eine deutsche Vizemeisterschaft im Gewichtheben (1961) in Dietrichs Erfolgsliste. Nicht erst seit 1972 wird Dietrich der „Kran von Schifferstadt“ genannt, doch erst der Geniestreich von München macht ihn zum Mythos. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits 39 Jahre alt, nimmt an seinen fünften Olympischen Spielen teil und wird am Ende keine Medaille gewinnen. Seine größten Erfolge liegen hinter ihm. Höhepunkt seiner Karriere: Bei den Spielen in Rom 1960 wird Dietrich im Freistil Olympiasieger. Als einer der wenigen Kämpfer fühlt sich der Brieftaubenzüchter in beiden Stilarten zu Hause. Er holt in Italien auch Silber im griechisch-römischen Stil. Es folgen Olympia-Bronze 1964 in Tokio (griechisch-römisch) und in Mexiko-Stadt 1968 (Freistil). Von seinen ersten Olympischen Spielen 1956 in Melbourne bringt Dietrich Silber mit. Der WM-Titel 1961 und die Europameisterschaft 1967 (jeweils Freistil) sowie 30 deutsche Meisterschaften runden eine beispiellose Ringerkarriere ab. Zudem führt Dietrich den VfK Schifferstadt zu sechs deutschen Mannschaftsmeisterschaften.

Privat ist Dietrich Zeit seines Lebens ein eher verschlossener Typ. Erst mit 18 Jahren kommt er zum Ringen und tritt dem VfK Schifferstadt bei. Dort ist Ringen keine Randsportart, sondern hat Tradition und bedeutet für viele das halbe Leben. Berühmt gemacht haben die pfälzische Kleinstadt mit ihren rund 20 000 Einwohnern der „Goldene Hut“, ein archäologischer Fund aus der Bronzezeit, und – Wilfried Dietrich. Doch am Ende seiner Karriere verlässt Dietrich den VfK. Dass der Verein ausländische Kämpfer für teures Geld anheuert, wurmt ihn. Dietrich wechselt nach Mainz. Er wird als Verräter gebrandmarkt. Das Leben in Schifferstadt wird für seine Familie unerträglich. Es folgt der Umzug nach Freisbach. Seinen Lebensabend verbringt Dietrich mit seiner zweiten Ehefrau in Durbanville/Südafrika. Er wird nicht glücklich dort, will zurück in die Heimat, doch am 3. Juni 1992 stirbt er an Herzversagen.

Auf die Initiative von ZDF-Reporter Klaus Angermann, den eine enge Freundschaft mit Dietrich verbindet, wird der „Kran von Schifferstadt“ 2014 in die Ruhmeshalle des Ringer-Weltverbandes aufgenommen. Späte Ehre für einen deutschen Ringer, der sich mit einem Wurf zur Legende machte.

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