Serie "Best of Olympia" Franziska van Almsicks ungestillte Sehnsucht nach Gold

Bonn · Franziska van Almsick ist eine deutsche Schwimmlegende, eines hat sie aber nie erreicht: den Olympiasieg. Heute ist sie darüber froh.

 Allein bei Olympia gewann Franziska van Almsick vier Silbermedaillen.

Allein bei Olympia gewann Franziska van Almsick vier Silbermedaillen.

Foto: picture alliance / Carsten Rehde/Carsten Rehder

Nicht viele können behaupten, sich spontan zu erinnern, wie sie jenen Sommer verbrachten, als sie 14 Jahre alt waren. Urlaub am Gardasee? Wandern in den Bergen? Und wo waren Sie? Ein Griff zu einem Fotoalbum mit vergilbten Kindheitserinnerungen könnte da Klärung bringen. Franziska van Almsick, davon ist auszugehen, hätte auf diese Frage eine prompte Antwort parat: In Spanien war sie. Barcelona. Bei den Olympischen Spielen. 1992 war das, und sie, gerade zarte 14 geworden, war mittendrin in ihrem Element, dem Wasser. Und erfolgreich.

Sie, aufgewachsen im Ostberliner Stadtbezirk Treptow, unweit der Mauer, entfachte, um im Bild zu bleiben, eine Welle der Begeisterung in Deutschland, die alle im Land mitriss, wohl selbst die Nichtschwimmer. Zwei silberne und zwei bronzene Medaillen gewann sie in Barcelona, die goldene verpasste sie um eine Armlänge. Im Becken und quasi über Nacht war ein Star geboren, auf den sich die Sehnsucht der Deutschen nach sportlichen Erfolgen projizierte.

Unbekümmerter und kecker Teenager

Ähnliches hatte wenige Jahre zuvor Boris Becker erlebt, der mit 17 in Wimbledon siegte und fortan als Liebling der Nation unterwegs war. Van Almsick eignete sich für die Heldenrolle vortrefflich. Sie war jung, zu jung, um mit der DDR-Vergangenheit in Verbindung gebracht zu werden. War ein hübscher, unbekümmerter und kecker Teenager, aufgeweckt und auskunftsfreudig, authentisch und ausgestattet mit einer entwaffnenden Natürlichkeit. Sie schlüpfte in die Rolle eines der ersten gesamtdeutschen Sportstars. Ein Postergirl der 90er Jahre.

Sie wurde schließlich den überdimensionalen Ansprüchen gerecht. Meistens jedenfalls. In ihrer Karriere schwamm van Almsick so manches Mal gegen den Strom. Sie musste sich dann vorgekommen sein wie ein Fisch auf dem Trockenen. Zwar wurde die Hochbegabte schnell als Goldfisch tituliert. Doch der Begriff entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als trügerisch, zumindest was Olympia betrifft. Die Spiele waren nicht unbedingt ihr Terrain, selbst wenn sie bei vier Teilnahmen insgesamt zehn Medaillen (vier silberne, sechs bronzene) in ihre Schatulle packen durfte. Die Sehnsucht nach dem Größten, was ein Sportler erreichen kann, blieb ungestillt: nach einem Olympiasieg.

„Es tut mir gut, nicht alles im Leben erreicht zu haben"

Heute, sollte sie Jahre später sagen, sei sie „an einem Punkt, an dem ich sagen kann, ich bin froh, Olympia-Gold nicht erreicht zu haben“. Klingt ungewöhnlich, doch ihre Erklärung leuchtet ein: „Ich hatte so viele tolle und positive Erlebnisse. Es ist für mich prägend zu erkennen, dass der Weg das Ziel ist. Mit einem Olympiasieg würde mir vielleicht dieser Weg dahin nicht so wichtig erscheinen, wie es heute der Fall ist“, erzählte sie einmal, längst eine reife und reflektierte Persönlichkeit. Eine Mutter, deren Werteanschauung sich im Laufe der Zeit verändert hat. Und: „Es tut mir gut, nicht alles im Leben erreicht zu haben. Das macht mich demütiger und lässt mich die Dinge, die ich heute erlebe, noch intensiver erleben.“ Als eines betrachtet sich van Almsick gewiss nicht: als gescheitert.

Verständlich, zwar hielt das Drehbuch kein olympisches Happy End für sie bereit. Doch ihre sportlichen Meriten sind überwältigend: zweimalige Welt- und 22-malige Europameisterin. Mehrmalige Weltrekordlerin. Im olympischen Becken jedoch erlebte sie ihre schwärzesten Stunden. Über ihre Lieblingsdisziplin, die 200 Meter Freistil, siegte Claudia Poll 1996 in Atlanta vor der Berlinerin. Jahre später wurde die Sportlerin aus Costa Rica des Dopings überführt. Doch van Almsick, gerade mal 18, übte auch Selbstkritik. Ich habe zuviel gewollt, ich habe mir zuviel vorgenommen“, sagte sie. „Ich glaube, daran bin ich gescheitert.“

Olympia in Sydney ein Schlag ins Wasser

Lange zu hadern kam für „Franzi“, wie sie liebevoll gerufen wurde, nicht in Frage, sie richtete den Blick nach vorn, auf das Jahr 2000, die Spiele in Sydney. Mit voller Kraft und nach einer mehrmonatigen Auszeit ging sie ihre Mission Gold an. Sie brach 1997 sogar die Schule ab, um sich noch besser auf den Sport konzentrieren zu können. Ein Motorradunfall, verbunden mit langer Verletzungspause (Bruch und Sehnendurchtrennung der linken Hand), warf sie weit zurück. Sie kämpfte sich wieder heran, der Traum von Gold ihr ständiger Begleiter.

Doch die Wettkämpfe in Australien waren ein Schlag ins Wasser. Für das gesamte deutsche Team (nur drei Bronzemedaillen), vor allem aber für sein Aushängeschild van Almsick. Und plötzlich schlug dem Liebling der Masse Häme und Spott entgegen, nachdem sie das Finale über 200 m Freistil verpasst hatte. Eine Boulevardzeitung titelte in einiger Anmaßung sogar „Franzi van Speck“ – sie muss sich vorgekommen sein wie eine Ertrinkende mit Blei an den Füßen.

Stefan Kretzschmar war Leidensgenosse - und dann Partner

Immerhin, trotz verfehlter Ziele fand sie ihr Glück in Australien – und einen Leidensgenossen. Auch Handballer Stefan Kretzschmar hatte in einem entscheidenden Moment gepatzt. Dieses gemeinsame Empfinden mag auch dazu beigetragen haben, dass die beiden lange als Traumpaar des deutschen Sports galten. Das Antlitz van Almsicks, madonnengleich, zierte später Kretzschmars kräftige Sportlerwade. Und er war es, der sie ermutigte, ihre Karriere fortzusetzen. Das erklärte Ziel: Athen. Doch auch bei den Spielen 2004 blieb ihr der goldene Abschluss versagt. Bronze mit der Staffel diente jedoch als versöhnliches Ende. Nun war es Zeit für sie, die die Hälfte ihres Lebens im Wasser verbracht hatte, endgültig aus dem Becken zu steigen. Zeit, das Laufen im Leben danach zu lernen.

Schwimmen gehe sie heute nur noch selten, Baden schon öfter. „Ich bin eine richtige Badetante.“ Gedanklich aber habe das Schwimmen immer noch eine hohen Stellenwert. „Es ist die sportliche Liebe meines Lebens. Ich werde auch immer eine Athletin bleiben. Das bleibt man ganz tief drinnen im Herzen.“ Auch ohne Olympiasieg.

Über ihre Karriere hat sie ein Buch geschrieben. Der letzte Satz darin lautet: „Ich bin jetzt aufgetaucht, die Zeit ist gekommen, um an Land weiterzuleben.“ Das macht sie. Und wie es scheint, hat die Mutter zweier Söhne auch außerhalb des Wassers eines bewiesen: viel Talent.

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