Interview mit Olympiasieger Nils Schumann "Die Freiheit, nein zu sagen"

ERFURT · Nils Schumann gewann im Jahr 2000 als 22-Jähriger Gold über 800 Meter bei den Olympischen Spielen in Sydney. Im Interview spricht er über die verlorenen Jahre des einstigen Sporthelden, über die Denkmuster in Ost- und Westdeutschland sowie über das unangenehme Thema Doping.

Am Pfingstmontag wird Nils Schumann 35 Jahre alt. Seine Karriere beendete er nach vornehmlich schwierigen Jahren erst 2009. In Erfurt betreibt er mittlerweile das Unternehmen Prana Sports, das laut Website (prana-sports.de) eine ganzheitliche persönliche Trainingsbetreuung auf höchstem Niveau anbietet – für Privatpersonen, aber auch Firmenkunden. Die prana sportslounge in Erfurt als Trainingsort soll mehr bieten als ein herkömmliches Fitnessstudio - nicht zuletzt durch individuelle Beratung, unter anderem durch den Olympiasieger.

Sportchef Berthold Mertes sprach mit Nils Schumann am Rande eines Laufcamps, das der Erfurter in Biersdorf bei Bitburg in der Eifel organisiert hatte – über die verlorenen Jahre des einstigen Sporthelden, unterschiedliche Denkmuster von Ost- und Westdeutschen, sowie besonders ausführlich über das unangenehme Thema Doping. Vor dem Interview hatten die Gesprächspartner mit einem lockeren Dauerlauf am Biersdorfer Stausee die Gehirnzellen mit Sauerstoff geflutet.

Herr Schumann, 9. November 1989 oder 27. September 2000. Welcher Tag hat Ihr Leben stärker beeinflusst?
Nils Schumann: Schwierig zu sagen. Subjektiv für mich war es der Olympiasieg von Sydney, aber im Gesamtkontext vielleicht auch der Mauerfall. Man überlegt, wenn man in Ostdeutschland die ersten Schritte getan hat: Wie wäre das im DDR-Sportsystem weitergegangen? Ich war schon sehr früh ein Sportler beider Systeme, habe die frühesten Sichtungsstufen im DDR-Leistungssport erfahren, dann aber das Glück der größeren Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit aus dem gesamtdeutschen System genießen können. Für mich war das gut. Ich weiß nicht, ob es für mich in ganz engen Richtlinien so gelaufen wäre. Insofern haben beiden Daten für mich einen großen Einfluss.

[kein Linktext vorhanden]Fühlen Ost- und Westdeutsche grundsätzlich immer noch unterschiedlich?

Schumann: Ich glaube ja. Ein Beispiel: Als alter Ostdeutscher muss habe ich eine ganz andere Einstellung zum Leistungssport. Das merke ich auch heute immer wieder: Für mich hat immer noch der Athlet, der Leistung bringt, einen höheren Stellenwert als für viele jüngere. Ich habe einen Bruder, der ist 12 Jahre alt und hat einen ganz anderen Bezug zu Leistungsthemen als ich. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die stattgefunden hat und die ich gar nicht bewerten möchte. Ich persönlich habe das große Glück gehabt, dass ich als vielleicht einer der letzten Profis Leichtathletik als Leistungssport betreiben durfte.

Sie sind der letzte deutsche Lauf-Olympiasieger aus Deutschland – auf lange Sicht, oder?

Schumann: Ich hoffe nicht. Für mich ist es zwar auf einer Seite schön. Ich würde aber gerne darauf verzichten. Momentan erscheint es mir aber ziemlich utopisch, dass ein deutscher Läufer Olympiasieger werden könnte.

Olympia Sieger Nils Schumann
11 Bilder

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Haben die Olympiasiege von Heike Drechsler 1992 und 2000, von Lars Riedel 1996 und Ihrer von 2000 den Prozess der Annäherung zwischen Ost und West beschleunigt?
Schumann: Ich weiß es nicht. Ich wurde immer als Angehöriger der ersten Generation der gesamtdeutschen Sportler bezeichnet. Ich persönlich mache diese Unterscheidung nicht mehr. Ich habe eher einen regionalen Bezug, freue mich über Thüringer Sieger. Ich finde schon, dass es in den letzten Jahrzehnten eine Annäherung gegeben hat. Nichts trägt mehr zur Annäherung bei als Erfolge.

Haben Sie diese Unterscheidung früher empfunden?
Schumann: Eher. Ich war zur Wende 11 Jahre alt und erinnere noch die Denkweisen und Strukturen aus der alten Zeit.

Was waren Ihre Sporthelden?
Schumann: Ich habe in meiner Jugend Bücher von Waldemar Cierpinski gelesen, dem Marathon-Olympiasieger von 1976 und 1980. Für mich war auch der Olympiasieg von Dieter Baumann sehr bewegend. In dem Fall war es mir egal, ob das ein Ost- oder ein Westdeutscher war. 1992 war ich 14 und es war für mich unglaublich, dass ein Weißer, dazu noch ein deutscher Läufer, diese damals bereits bestehende afrikanische Übermacht bezwingen konnte. Ich werde nie vergessen, dass ich damals mit meinem Vater das 5000-m-Finale von Barcelona sah. Und wie er mich anschließend fragte: Warum nicht du? Das war eine Idee, die mich verfolgt hat. Mein großes Ziel war dann, zu Olympia fahren zu dürfen. Damals habe ich natürlich nicht damit gerechnet, da gewinnen zu können.

Welchen Beitrag hat der Sport insgesamt zur deutsch-deutschen Integration geleistet?
Schumann: Er war früher ein großes Trennungsmerkmal, man hat sehr viele Barrieren im Sport aufgebaut. Und viele haben sich gewundert, dass aus zwei starken Sportsystemen nicht ein überragendes geworden ist, sondern eher das Gegenteil. Vieles hat sich zurückentwickelt - weil einfach der Partner zum Messen gefehlt hat. Man darf den Sport nicht überschätzen. Er ist auch nur eine gesellschaftliche Attitude wie viele andere auch.

Also nicht überzubewerten …
Schumann: Sportler sind keine besseren Menschen.

Was empfinden Sie bei diesem Bild? (ich reiche ihm die Olympia-Ausgabe des Fachmagazins Leichtathletik, das ihn in Jubelpose in Sydney zeigt)

Schumann (schmunzelt): Lange nicht mehr gesehen.

Die Zeitungen schrieben damals: Schumi gibt Vollgas. Und Sie sagten unmittelbar nach dem Goldlauf von Sydney: Es war das Rennen meines Lebens …

Schumann: Diesen Satz konnte ich leider nicht mehr revidieren.

Also kein schöner Satz – oder nur der falsche Zeitpunkt?

Schumann: Ja doch, mit 13 Jahren Abstand schön, toll. Aber im Alter von 22 Jahren hat man ja die Vorstellung, dass noch mehr kommt. Es gab noch ein paar Momente, die schön waren, aber es gab nach dem Olympiasieg vor allem auch viele nachdenkliche Momente, sogar einige sehr unglückliche. Die Kehrseite des Sports musste ich erst nach meinen Erfolgen kennenlernen – dann aber richtig. Andererseits finde ich die Aussage richtig, denn was soll für einen Leichtathleten nach einem Olympiasieg noch passieren?

Wahrscheinlich ist es der letzte deutsche auf lange Sicht in einer Laufdisziplin, ein Meilenstein, wie der von Dieter Baumann, dennoch mit weniger Nachhall. Werden Sie auf der Straße noch erkannt?

Schumann: In meiner Heimat in Thüringen ja. Dort weiß man auch, dass ich weiterhin umtriebig im Sport bin. Ich arbeite als Personal Trainer, beschäftige mich viel mit Problemen anderer Menschen - sei es Gewicht, sei es Verbesserung von Zeiten, sei es Gesundheit. Das macht mir sehr viel Spaß. Ich bin ohnehin nicht der selbstverliebte Mensch, der überall erkannt werden muss. Erkannt werde ich hin und wieder von Leuten, die sich im Sport auskennen. Das ist mir zehnmal lieber als ein platter Bekanntheitsgrad, der nur auf Fernsehpräsenz beruht.

Nach dem Olympiasieg träumten Sie von Millionen. Was ist daraus geworden?
Schumann: Anfangs habe ich viel Geld verdient, wurde als junger Mann schon
Deutschlands Sportler des Jahres, hatte tolle Verträge. Damals erlebte ich die vielen tollen Seiten des Erfolgs, habe aber auch viel falsch gemacht, auch viel Geld in den Sand gesetzt, Verträge vermasselt. Ich bewundere Sportler wie Magdalena Neuner, die durch eine gute Führung und Relativierung vieler Dinge Fehler vermeiden. Mein Umfeld aber hatte gute und schlechte Seiten.

Waren vielleicht auch die Erwartungen überzogen, was die Vermarktung

eines Leichtathleten angeht?
Schumann: Ich will nicht arrogant sein, aber wenn ich Zahlen auf den Tisch legen
würde, was ich damals verdient habe, erscheint das heute utopisch. Das war sehr gut - speziell mit meinem Ausrüster Nike. Der hatte damals eine große Kampagne mit mir geplant. Aber das Sportler-Dasein ist sehr kurzlebig. Es kann sehr schnell vorbei sein mit der Herrlichkeit. Erst Champions League, dann am Boden. An Verletzungen hast du keine Schuld, doch niemand verzeiht sie dir. Das Leben geht weiter im Sport. Wenn du Pech hast, bist du schon morgen weg vom Fenster.

Sie holten jahrelang alle Titel: Europameister bei den Junioren, bei den Männern erst in der Halle und dann auch noch draußen, jeweils vor dem damaligen Weltrekordler Wilson Kipketer. Und nach dem Geniestreich von Sydney?

Schumann: Danach hatte ich das Pech, dass ich schwer verletzt war. Fast dreieinhalb Jahre war ich nur in Krankenhäusern und Rehakliniken. Das ist für den Bekanntheitsgrad und die Vermarktung eines Sportlers tödlich. Platz fünf bei der WM 2001, das war schon enttäuschend, Bronze bei der EM 2002 erfüllte auch nicht meine Hoffnungen. Ich habe damals schon gemerkt, die Luft war ein bisschen raus.

Sie waren erst Anfang 20 …

Schumann: Trotzdem hätte ich damals schon besser überlegen sollen, wie es weitergeht.

War Ihnen der Erfolg zu Kopf gestiegen?

Schumann: Nach dem Olympiasieg suchten eine Menge Leute meine Nähe, die mir nicht gut getan haben, das sage ich ganz ehrlich. Das war nun mal so. Ich schätze meinen Trainer Dieter Hermann fachlich hoch. Aber wir beide und mein Management waren in vielen Dingen blauäugig und damit ein gefundenes Fressen für Leute, die das gerne ausnutzen. Ich habe das auch über mich ergehen lassen.

Welche Lehren daraus können Sie erfolgreichen jungen Athleten weitergeben?

Schumann: Im Sport gibt es niemals ein Gleichmaß: Nie nur toll, oder nur schlecht. Es ist immer eine Wellenbewegung. Das habe ich damals einfach unterschätzt. Ich dachte nach Sydney, das wird immer so weiter gehen, nur noch steil bergauf. Aber das ist ein Trugschluss, davon musste ich kuriert werden.

Also hatten Sie damals niemanden, der Sie wachgerüttelt hat?
Schumann: Wenn es bloß einen Sportler mit meinen Erfahrungen gegeben hätte, der mich hätte beraten können. Ich war vielleicht auch zu stolz und zu eitel, um mir diesen Rat extern zu holen.

Ist das vielleicht eine künftige Aufgabe für Sie? Eventuell im Deutschen Leichtathletik-Verband?

Schumann: Es wurde nicht angefragt. Alles hat seine Zeit. Nach einigen Kontroversen habe ich mich vom Verband entfernt. Es gab Kontroversen, als ehemaliger Spitzensportler bin ich vom DLV enttäuscht.

Wer ist der Verband? Bundestrainer? Präsident?

Schumann: Der Präsident Clemens Prokop. Zu Trainern habe ich teilweise noch heute gute Kontakte, egal ob sie aus dem Westen oder dem Osten kamen. Das sind Leute mit persönlichem Bezug. Mit Herrn Prokop hatte ich ein Riesenproblem, weil er Sportler als Eigentum von Verbänden gesehen hat. Als traurig habe ich es empfunden, dass ich – obwohl letzter Lauf-Olympiasieger, bis heute nie eine richtige Verabschiedung bekommen habe.

Auch nicht den ausgerechnet nach einem 800-m-Läufer benannten Harbig-Preis, den verdiente Leichtathleten Ihres Kalbers üblicherweise gegen Ende der Karriere erhalten?

Schumann: Ich habe nie etwas in diese Richtung bekommen.

Womit verdienen Sie heute Ihr Geld?

Schumann: 2009 habe ich meine Sportkarriere beendet und mich nochmal auf die Schulbank gesetzt. In den letzten Jahren davor hatte ich noch Medaillen bei deutschen Meisterschaften gewonnen. Aber wenn du über 30 bist und dich nicht mehr in internationalen Gefilden bewegst, dann musst du dich nach anderen Aufgaben umschauen.

Das waren doch ein paar verschenkte Jahre, oder?

Schumann: Ja, ich hätte schon fünf oder sechs Jahre früher aufhören sollen, weil
das eine Quälerei war. Immer wieder in Verletzungen reinzutrainieren - das macht keinen Spaß, das ist frustrierend. Und öffentlich hat man immer noch Erwartungen gehabt. Die Presse hat zu Recht nicht mit Kritik hinter dem Berg gehalten. Von einem ehemaligen Olympiasieger erwartet man mehr.

Olympiasieger bleibt man immer…

Schumann (lächelt): Ja, gerne. Aber auch dem Druck muss man sich stellen – von Seiten der Medien, aber auch von den Sponsoren. Dem konnte ich nicht mehr gerecht werden. Irgendwann musste ich andere Wege gehen, habe zu Beginn 2008 eine eigene Agentur gegründet und Trainer angestellt. Inzwischen darf ich mich Personal Trainer mit A-Lizenz nennen. Dazu gehören viele Aspekte, die ich im Leistungssport nicht erlebt habe.

Die 800 m waren früher in Deutschland eine Strecke mit großer Tradition – und großen Namen wie Franz-Josef Kemper und nicht zuletzt Ex-Weltmeister Willi Wülbeck, dessen deutscher Rekord sich 2013 zum 30. Mal jährt …
Schumann: Und im Osten hatten wir Helden wie Europameister Manfred Matuschewski oder Dieter Fromm, beide aus Erfurt wie ich … Leider ist die Herrlichkeit vorbei.

Woran liegt’s?

Schumann: Talente sind nach wie vor da. Bei einigen weiß man nicht, wo die Reise mal hingehen kann. Ihnen fehlt es an den notwenigen Rahmenbedingungen.

Ist die im deutschen Sport propagierte duale Karriere, also das Nebeneinander von Sportkarriere und Studium oder beruflicher Ausbildung, denn kein gangbarer Weg?
Schumann: Für mich persönlich hätte es nicht funktioniert, nebenbei Sport zu machen oder nebenbei zu studieren. Das kam nicht in Frage, für mich gab es nur das eine oder das andere. Ich war sehr viel in Trainingslagern. Wenn ich dann zwei- oder dreimal trainiere am Tag, dann brauche ich den Freiraum zwischendurch zur Erholung – körperlich wie mental.

Sie haben mit einem Schnitt von 1,7 ein sehr gutes Abi gemacht und hätten auch einen anderen Weg einschlagen können.…

Schumann: Das hätte ich auch gerne gemacht. Ich war stark interessiert an Biologie und Umwelttechnik. Aber dann kam der Sport dazwischen. Und ich bin ein Typ der Extreme. Für mich gibt es nur Schwarz oder Weiß. Deshalb entschied ich mich für eine Sache.

Kann man jungen Leuten denn heute noch guten Gewissens empfehlen, Hochleistungssport zu treiben, angesichts der hohen Risiken für Gesundheit und materielle Existenz, und dem Wissen um mangelnde Chancengleichheit, weil viele Topathleten unentdeckt zu unerlaubten Mitteln greifen?

Schumann: Ich habe selbst zwei kleine Söhne und würde mich freuen, wenn sie später Sport treiben. Auch gerne Wettkämpfe. Aber Hochleistungssport in der Leichtathletik, da hätte ich meine Bauchschmerzen.

Warum?

Schumann: Ich sehe, dass die Lorbeeren sehr hoch hängen. Ich habe durch Verkettung glücklicher Faktoren den entscheidenden Sprung sehr früh geschafft, bin mit 19 schon Europameister geworden. Das ist kein Normalzustand. Viele können es erst mit 26 oder 27 schaffen. Diesen Weg zu überbrücken ist sehr schwierig. Wir haben für Spitzensportler außerhalb des Fußballs weder Berufsgenossenschaft noch Renten- oder Arbeitslosenversicherung. Was es gibt, ist Larifari. Die Förderung versickert.

Und was halten Sie von der dualen Karriere?
Schumann: Es ist ein tauglicher Weg für Amateursportler. Ich sage es aus meiner subjektiven Sicht: Für mich wäre es nicht vorstellbar gewesen, zwei Dinge nebeneinander zu machen. Dazu hängen speziell im Laufsport die Lorbeeren zu hoch. Um etwas zu erreichen, musst du 100 Prozent geben. Ich war häufig in Kenia im Trainingslager und weiß, dass es dort unheimlich viele Talente gibt und viele davon alles geben für diesen Sport. Wenn man als Europäer nur fünf Prozent abgibt an Konzentration, dann hat man keine Chance mehr.

Sollte man das duale System dann nicht gleich ganz abschaffen?

Schumann: Lieber ein System, das mit bis zu 95 Prozent guten Leistungen funktioniert als gar kein System.

Es gab schon mal einen guten Ansatz – der kam aus Chemnitz …

Schumann: Das Modell kam vom früheren Bundestrainer Bernd Schubert. Er schlug ein Modell wie in Spanien vor: Feste Verträge mit zwei oder vier Jahren Laufzeit, mit einer Staffelung von A- bis C-Kader. Damit würden echte Olympia-Goldhoffnungen als Topverdiener mit einer Größenordnung von 7500 Euro pro Monat nach Hause gehen und könnten damit die Absicherung ihres Lebens.

So ein Modell ginge weit über die Eliteförderung der Deutschen Sporthilfe hinaus.

Schumann: Ja, dann aber richtig mit Vertrag: du bist Athlet des Verbandes mit einem Arbeitsvertrag. Nur so ist wirklicher Spitzensport für mich denkbar. Das ist wohl utopisch. Aber so wie es jetzt läuft, muss man sich davon verabschieden, dass man ständig Olympiasieger produzieren kann ...

… oder gar als Nation in der Weltspitze mithält.

Schumann: Ich beziehe mich vor allem auf die weltweit professionalisierte Sportart Leichtathletik. Vielleicht schafft es mal ein Talent, aber man wird keinen Sportler erzeugen, der sich über 10 oder 12 Jahre in der Weltspitze aufhält.

Das Thema Doping spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle - weltweit. Wie haben Sie der Versuchung widerstanden?

Schumann: Die Versuchung ist immer da. Mein Bild von der Leichtathletik in Deutschland ist: wir sind eine saubere Sportart. Bei uns macht es mir mehr Bauchschmerzen, dass wir uns mit Anti-Doping-Doktrinen plagen müssen. Und auch mit Fehlanschuldigungen, wie ich sie leider selbst erleben musste.

Das kürzlich gefällte Urteil im Fall des spanischen Dopingarztes Fuentes hat verfügt, dass 200 sichergestellte Blutbeutel vernichtet werden, statt sie den Anti-Doping Agenturen zur Verfügung zu stellen. Welche Wirkung hat das auf das Ansehen des Sports?
Schumann: Ob sie nun nachanalysiert werden oder nicht: Die Wirkung auf die Meinung der Menschen ist eine fatale: Sie sind abschreckt vom Spitzensport, denken generell negativ über gute Leistungen. Diese Gefahr für den Spitzensport ist aus meiner Sicht größer als die, dass der deutsche Leistungssport im stillen Kämmerlein Weltleistungen erzeugt. Dabei ist diese Vorstellung absoluter Quatsch. Das Misstrauen aber ist inzwischen riesig.

Aber in ganz Deutschland wurde gedopt – vor allem seit Zeiten des Kalten Krieges. Warum sollte das danach nicht mehr der Fall sein?
Schumann: Das ist eine fast philosophische Frage. Gegenfrage: Haben alle Sprinter, die schneller waren als Ben Johnson, auch gedopt. Man darf Entwicklungen in der Trainingsmethodik, beim Material der Schuhe oder der Laufbahnen nicht vergessen.

Ein Argument für einen sauberen Nils Schumann ist seine schlüssige Leistungsentwicklung und seine menschliche Bestzeit von 1:44 Minute. Können Sie sich vorstellen, dass jemand in der Lage ist, den aktuellen Weltrekord von 1:40 sauber zu laufen?

Schumann: Das sind bissige Fragen. Aber man muss diese Fragen stellen. Der Sieg des Kenianers David Rudisha war bei Olympia 2012 in London die herausragende Leistung – das hat Olympia-Chef Sebastian Coe, früher selbst Weltrekordler, auch gesagt.

Die Frage nochmals: Geht das sauber?

Schumann: Wer 800 m gelaufen ist, weiß, was es heißt, 50 Sekunden über 400 m anzulaufen. Dann noch eine „51“ draufzulaufen, ist für meinen Körper definitiv nicht möglich gewesen. Ich hätte mir bei günstigem Rennverlauf vorstellen können, den deutschen Rekord von Willi Wülbeck zu unterbieten, der immer noch bei 1:43,65 steht. Den hatte ich in Reichweite, viel mehr hätte ich nicht erreichen können. 1:41 wären für mich nur mit unerlaubten Mitteln denkbar gewesen.


Wie wirkt Folgendes aus Ihrer Vita auf den neutralen Betrachter: eine Zeit lang bei Thomas Springstein trainiert zu haben, der wegen Dopings von Minderjährigen vor Gericht stand - und sich in Madrid beim gerade wegen Gesundheitsgefährdung verurteilten Dopingarzt Fuentes über medizinische Möglichkeiten im Spitzensport erkundigt zu haben?

Schumann: Ich war mehrmals in Madrid, aber ich habe einen Herrn Fuentes nie kennengelernt und nie mit ihm zusammengearbeitet. Es gibt in Spanien auch andere gute Ärzte, die einem …

… das System erklären?
Schumann: Ja, das System erklären und auch sagen, wieweit du gehen kannst. Ich persönlich habe die Grenze des Erlaubten nie überschritten. Obwohl es mir hier und da schmackhaft gemacht und auch angeboten wurde. Übrigens ausdrücklich nicht von Manager Jos Hermens, wie in Medienberichten spekuliert wurde. Ohnehin hat jeder Sportler die Freiheit, zu entscheiden: ja oder nein. Es gab nie die Situation, dass jemand sagte: ,Nils, nimm das‘, oder ,du musst‘ oder ,mach doch‘.

Ihr Besuch bei spanischen Medizinern wurde von verschiedenen Medien aber als Beleg für mögliche Dopingvergehen gewertet …
Schumann: Ich finde es sehr schade, wenn man als Sportler abgestempelt wird. Weil ich mal einen Arzt in Madrid kontaktiert habe und weil ein Herr Fuentes dort Blut anderer Sportler behandelt hat, wird das in einen Topf geworfen und alles wird mal umgerührt. Das werfe ich ehrlich gesagt der Presse vor: Dass man sehr zielgerichtet sucht und schon mit einem feststehenden Ergebnis im Kopf gezielte Recherchen betreibt. Sobald dann ein Indiz in eine Richtung zeigt, wird das Ding schon publiziert. Das finde ich schade, weil dabei immer mit Existenzen gespielt wird.

Warum ist Weltklasse denn nicht natürlicher möglich, also mit weniger Medizin und ohne Nahrungsergänzungsmittel beispielsweise?

Schumann: Dazu muss ich etwas Grundsätzliches sagen: Ein Sportler hat die Pflicht, neben der Trainingsmethodik auch im gesamten Lebensumfeld beste Bedingungen zu schaffen. Deshalb darf die Sportmedizin nicht verteufelt werden. Leider gewinnt man diesen Eindruck in sehr vielen Berichterstattungen. Es ist ein Riesenfehler zu denken: Jeder Arzt, der mit Spitzensportlern zu tun hat, arbeitet mit unerlaubten Mitteln. Das ist Quatsch.

Warum entscheidet sich ein Athlet gegen Doping?

Schumann: Aus Angst. Ich kann nur für mich sprechen: Ich bin sehr ehrenhaft erzogen worden und habe den Sport als lebensbegleitend erlebt. Mein Vater war sehr sportinteressiert, auch schon mein Großvater. Ich bin mit Sporthelden groß geworden. Als ich mitbekam, dass leistungssteigernde Mittel auch eine Rolle spielen, hat mich das erschüttert. Das habe ich als Sportler nie gewollt. Aber du wächst in ein System hinein, bekommst das mit. Dazu muss ich sagen: als junger Athlet bist du nicht derjenige, der mit dem Finger auf alles zeigt. Das ist vielleicht ein Fehler. Aber für sich selbst hat man doch immer die Wahl.

Und Sie haben wirklich nicht nachgeholfen?

Schumann: Ich hätte es auch leichter haben können, hätte doppelt so viele Jahre in der Elite haben können. Hätte weniger Verletzungen haben können. Denn ein großer Vorteil des Dopings ist natürlich die Verkürzung der Erholungszeit. Ich war immer ein Athlet, der auch im Training an der Grenze getanzt hat. Ich hatte fünf erfolgreiche Männerjahre, war in dieser Zeit in allen Finals. Das war schon gut, aber es gibt auch Sportler, die das Doppelte und Dreifache dieser Karrierezeit schaffen. Das hat mein Körper leider nicht hergegeben. Mit unerlaubter Unterstützung hätte ich meine Karriere vielleicht verlängern können. Aber das ist hypothetisch und ich würde mich damit auch nicht wohl fühlen.

Wie erklären Sie Zweiflern, dass man sauber Olympiasieger werden kann?

Schumann: Die Zweifler wird es immer geben. Niemand kann für irgendeinen in diesem Metier die Hand ins Feuer legen. Ich kann es nur für mich behaupten.

Haben Sie einen Beweis?

Schumann: Mein Beweis ist: Ich kann zeigen, was ich trainiert habe, wie oft ich trainiert habe, was ich in Kauf genommen habe. Das ergibt über Jahre seit der Jugendzeit einen runden, logischen Bogen in der Leistungsentwicklung.

Der ergab sich bei Dieter Baumann auch. Glauben sie, dass er sauber war?

Schumann: Ist er verurteilt worden?

Ja, er bekam zwei Jahre Sperre.

Schumann: Ein umstrittenes Thema und umstrittenes Urteil. Vielleicht muss man philosophisch fragen: Was ist Hochleistungssport? Das ist immer ein Tanz auf des Messers Schneide. Ich glaube auch, dass Athleten verpflichtet sind, dieses Maß auszureizen. Ohne Sportmedizin wird vieles schwierig. Das fängt bei der Ernährung an und hört bei Infusionen auf, die ja mittlerweile verboten sind.

Und die Anti-Doping-Bestimmungen sind zu kompliziert?

Schumann: Ich bin nicht mehr komplett in der Materie, aber ich weiß aus Athletensicht, wie das ist. Als 14, 15 oder 16 Jahre altes Talent kommst du zum Olympiastützpunkt, erhälst die so genannte Athletenvereinbarung und unterschreibst. Ehrlich? In dem Alter habe ich sie nicht durchgelesen.

Die Sportler werden heute sicherlich besser aufgeklärt. Aber auch die Kontrollen sind schärfer als im Jahr 2000.

Schumann: Ich bin mir da nicht sicher: Im Olympiajahr hatte ich, glaube ich, 18 Dopingkontrollen.

2012, also lange nach Ihrer Karriere, mussten Sie sich in Zusammenhang mit einer Blutaffäre am OSP in Erfurt gegen einen Dopingverdacht wehren - erwiesenermaßen ungerechtfertigt. Wie sind Sie damit umgegangen?

Schumann: Ich war erschüttert, dass dieses Thema so viel Gehör fand. Lange habe ich um meine Existenz als Athlet gekämpft, war im Fernsehen von der Bildfläche verschwunden. Aber wie schnell man mit diesem Thema wieder zur besten Sendezeit in die ARD-Sportschau kommt, das ist erschreckend. Das hat selbstverständlich weh getan.

War das Rufschädigung? Was haben Sie unternommen?

Schumann: Das ist es sicherlich, aber wie soll man sich dagegen wehren? Ich hatte einen Anwalt. der alles geprüft hat. Aber Journalisten, die solche Dinge veröffentlichen, tun das nicht zum ersten Mal und wissen genau, wie sie mit vermeintlichen Beweisen ein gewünschtes Bild erzeugen.

Was sagen Sie zum Fuentes-Urteil vom 30. April? Er wurde milde wegen Gesundheitsgefährdung bestraft und die sichergestellten 200 Blutbeutel sollen vernichtet werden, statt sie den Anti-Doping-Organisationen für die Aufklärungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Eine Farce?

Schumann: Ich denke ja, ringe aber noch um klare Meinung. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Einflussnahmen stattfinden, die weit über die Sportpolitik hinausgehen. Es ist wohl leider hinzunehmen, dass es kein gleiches Maß im Anti-Doping-Kampf gibt. Alleine an den politischen Grenzen scheitern gleiche Maßstäbe, was Kontrollen betrifft. Das muss man akzeptieren. Oder man versucht, gleiches Maß für alle herzustellen.

Internationale Harmonisierung ist das große Ziel der Dopingbekämpfer.

Schumann: Entweder man erzeugt es, indem die Bedingungen überall gleich hart oder gleich lax sind. Das Thema ,gleich hart‘ hat man lange genug probiert, um zu merken, dass es nicht funktioniert.

Das hört sich nach einem Plädoyer für eine Dopingfreigabe an.

Schumann: Ich bin gegen eine Freigabe, weil die Medizin sich dann in immer gefährlichere Bereiche bewegt. Dennoch ist es ein Zwiespalt: Als Sportler möchte man mit gleicher Chance an der Startlinie stehen. Man weiß aber heute, dass das Thema wahrscheinlich nie funktionieren wird. Wir befinden uns in einer ideologischen Sackgasse des Leistungssports. Ich persönlich finde es zum Kotzen.

Eine letzte Frage: Was wäre aus Ihnen geworden, wenn Sie nicht Olympiasieger geworden wären?

Schumann: Ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht hätte ich als Sportler noch mehr Feuer gehabt, wenn ich in Sydney Zweiter hinter Wilson Kipketer geworden wäre. Bei mir war die Flamme doch etwas erloschen. Der Ehrgeiz, dieser absolute Siegeswille war befriedigt. Ich neige zu Extremen, das ist eine persönliche Eigenschaft von mir: Also schwarz oder weiß. Ich will immer der Beste der Besten sein. Vielleicht wäre es dann auf einem anderen Feld geglückt.

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