Handball-WM Heiner Brand verspürt kein bisschen Wehmut

Köln · Der Ex-Weltklasse-Handballer Heiner Brand spricht über sein Dasein als ehemaliger Handball-Bundestrainer, das unübersichtliche Favoritenfeld beim anstehenden Turnier und die Bedeutung von Führungsspielern.

Herr Brand, wären Sie jetzt gern Christian Prokop?

Heiner Brand: Ich habe nicht ein Mal daran gedacht, wieder in den Trainerjob einzusteigen. Insofern bin ich ganz weit weg davon.

Kein bisschen Wehmut?

Brand: Neee, als ich diese Entscheidung getroffen habe, konnte ich von der ersten Minute an sehr gut damit leben.

Wie geht es einem Trainer in dieser Phase, so kurz vor der WM? Kann er da noch irgendwann abschalten, oder ist das jetzt schon ein 24-Stunden-Job?

Brand: In der jetzigen Phase muss man sich eine gewisse Lockerheit erhalten und abends vielleicht auch noch mal rausgehen. Die richtige Anspannung kommt früh genug. Gerade bei einer Heim-WM ist der Druck noch viel größer.

Haben Sie Mitgefühl mit Ihrem Nachfolger Christian Prokop, der ja nach der misslungenen EM 2018 in Kroatien ungewöhnlich hart angepackt worden ist?

Brand: Natürlich, damals ist man zu hart mit ihm umgegangen. Dass er Fehler gemacht hat, weiß er selbst. Aber bei der Beurteilung des Turniers sind einige Leute vergessen worden. Da ist immer auch ein Umfeld, das funktionieren muss. Und es gab auch bei der Mannschaft falsche Verhaltensweisen. Man kann mit dem Trainer diskutieren, aber der Trainer entscheidet, wo’s langgeht. Und wenn ich das nicht spielen kann, bin ich nicht gut genug.

Haben Sie während der EM mal gedacht, oh Mann, Christian, jetzt bist du auf dem falschen Weg?

Brand: Es sind sicherlich Fehler passiert. Etwa in den Auszeiten. Aber grundsätzlich gibt es ja nicht nur eine Meinung.

So manche Auszeit von Prokop wirkte in Kroatien wie ein Proseminar. Wie kriegt man es hin, die Spieler nicht zu überfrachten, aber dennoch genug Information rüberzubringen?

Brand: Man sollte sich auf zwei, drei Informationen beschränken. Vielleicht nimmt man sich zum Ende der Auszeit noch mal einen Spieler und redet individuell mit ihm. Ich fand es immer gut, wenn auch Leistungsträger sich eingebracht haben. Ich sehe von außen einige Dinge besser, andere Dinge sind auf der Platte besser zu erkennen. Die Spieler können aber natürlich nicht das Gegenteil von dem sagen, was ich gesagt habe. Dann gibt’s ein Problem.

Haben Sie den Eindruck, dass Prokop und die Mannschaft zusammengefunden haben?

Brand: Nach allem, was ich höre und lese, ja. Man muss halt abwarten, wie es im Turnier läuft. Da gibt’s auch schon mal kritische Momente. Und dann zeigt sich, wie das Verhältnis wirklich ist.

Was trauen Sie dieser Mannschaft zu?

Brand: Alles ist möglich. Da sind hochtalentierte Spieler, solch eine Auswahl haben wir noch nie gehabt. Wenn die zusammenwachsen und wirklich in eine Richtung gehen, traue ich ihnen einiges zu. Zumal es derzeit keine Übermannschaft im Welthandball gibt. Auch keine zwei, die allein für den Titel infrage kommen. Da sind viele Mannschaften, die recht nah beieinander liegen.

Wenn die Nationalmannschaft also zusammenwächst, kann sie wirklich mit Frankreich, Dänemark & Co. mithalten?

Band: Das glaube ich.

Da ist kein Favorit?

Brand: Ich habe mir jetzt mal das französische Aufgebot angesehen. Das ist sicherlich eine gute Mannschaft, aber eine Ausnahmemannschaft wie früher mit Narcisse, den Gille-Brüdern und Omeyer sind sie nicht mehr.

Und jetzt fällt auch noch Nikola Karabatic verletzt aus.

Brand: Ja, doch er musste seinem Alter und seiner Spielweise in den letzten Jahren Tribut zollen. Er ist schwankender in seinen Leistungen geworden.

Aber Angst macht er einer Abwehr immer noch.

Brand: Das kann er, doch ohne ihn läuft das Spiel oft flüssiger, weil er auf Einzelleistungen programmiert ist.

Ist der deutsche Rückraum nicht ein wenig dünn besetzt?

Brand: Finde ich eigentlich nicht. Sicher, Julius Kühn fehlt wegen eines Kreuzbandrisses, aber der ist ja auch keiner ohne Fehl und Tadel. Er kann aus dem linken Rückraum Druck entwickeln, aber er macht schon mal technische Fehler. Vielleicht lebt ja Steffen Fäth auf, wenn er bei der Nationalmannschaft in einem anderen Umfeld ist. Wir haben jedenfalls genügend Leute. Sie müssen ihre Form finden, und – ganz wichtig – es müssen sich Führungsspieler herauskristallisieren.

Wer könnte das sein?

Brand: Ich denke, die Nominierung von Martin Strobel als Zweitligaspieler für die Rückraummitte deutet in diese Richtung. Der kann zumindest Dinge ansagen, erkennen, welche Auslösehandlungen man spielen muss, und er hat die nötige Ruhe. Ob er individuell noch stark genug ist, kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn bei Balingen gar nicht mehr gesehen.

Aber Strobel ist eher ein leiser Spieler.

Brand: Nicht jeder Führungsspieler muss laut sein. 2007 hatten wir Markus Baur, der war auch nicht laut, hatte aber das Selbstvertrauen und einen gewissen Machtanspruch. Der Laute war damals Christian Schwarzer als emotionaler Leader. In der Abwehr kann das heute Patrick Wiencek, doch der eigentliche Leader muss in der Lage sein, die Initiative zu ergreifen.

Der Lauteste steht im Tor.

Brand: Torhüter sind heute wichtiger denn je. Aber auf das Spiel insgesamt kann Andreas Wolff relativ wenig Einfluss nehmen. Genauso wenig wie Kapitän Uwe Gensheimer auf Linksaußen. Das ist nicht die Position, um die entscheidenden Dinge einzuleiten.

Es muss schon ein Rückraumspieler sein, oder?

Brand: Ein zentraler Spieler, übrigens auch in der Abwehr.

Was die Abwehr angeht, machen Sie sich keine Sorgen?

Brand: Nein, mit Wiencek, Finn Lemke und Hendrik Pekeler haben wir Spieler im Zentrum, die höchsten Ansprüchen genügen.

War es vielleicht Prokops Kardinalfehler vor der EM 2018, dass er Lemke zunächst nicht nominiert hatte?

Brand: Das war ein Unruhefaktor schon vor Beginn des Turniers, der nicht notwendig war. Christian hatte seine Vorstellungen aus der Bundesliga, wie eine Abwehr zu spielen hat. Aber international herrscht ein anderes Niveau. Da fehlte ihm sicherlich die Erfahrung bei seinem ersten Turnier.

Wie distanziert, wie engagiert werden Sie die anstehende WM verfolgen?

Brand: Grundsätzlich habe ich inzwischen eine große Distanz, doch wenn ich in der Halle bin, werde ich mitschwitzen. Gensheimer, Patrick Groetzki und Steffen Weinhold haben ja schon unter mir gespielt. Zu diesen Jungs habe ich eine gewisse Nähe.

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