Olympia in Rio Improvisation bis zur letzten Sekunde

Rio de Janeiro · Am Freitag beginnt das Großereignis mit der Eröffnungsfeier in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro. Doch von Feststimmung ist noch nicht viel zu spüren.

 TOPSHOT - Waste litters the water as a sailor prepares for a training session at Rio de Janeiro's Guanabara Bay on August 1, 2016 ahead of the 2016 Rio Olympic Games. / AFP PHOTO / WILLIAM WEST

TOPSHOT - Waste litters the water as a sailor prepares for a training session at Rio de Janeiro's Guanabara Bay on August 1, 2016 ahead of the 2016 Rio Olympic Games. / AFP PHOTO / WILLIAM WEST

Foto: AFP

Als Thomas Bach am Sonntag zum ersten Mal das Pressepodium im Zeltbau neben dem gigantischen schwarz verspiegelten Glas-Tower des internationalen Medienzentrums bestieg, hatte der „Herr der Ringe“ nach einem turbulenten Wochenende eine eindeutige Botschaft parat. „Wir sind zuversichtlicher denn je, dass wir fantastische Spiele à la Brasil hier in Rio erleben werden“, versprach der deutsche Präsident des Internationalen Olympischen Komitees demonstrativ gelassen.

Tumulte beim Fackellauf, die Copacabana überflutet, die Rampe für die Segelboote zerbrochen, Baumurks und Rauch im Athletendorf, Ad-hoc-Wechsel bei der Eingangs-Security und immer wieder die Themen Russland und Doping: Seit seiner Ankunft am vergangenen Mittwoch war dem obersten Olympioniken bei der Vielzahl der Probleme fast schwindelig geworden. Nur gut, dass die Brasilianer ihrem Ruf als Improvisationskünstler noch gerecht werden. Es geht bisweilen chaotisch zu, aber am Ende funktioniert es fast irgendwie immer.

Dabei hat der südamerikanische Gigant seit seiner Kür zum Olympia-Gastgeber einen Wandel vom Paulus zum Saulusvollzogen. Denn aus dem Land mit der boomenden Wirtschaft, voller Optimismus und einem neu gewonnenen Vertrauen in die Demokratie ist nach der Jubelnacht vom 2. Oktober 2009 bei der IOC-Session in Kopenhagen ein nicht eingelöstes (Wahl-)Versprechen geworden.

In nur sieben Jahren ist Brasilien unter der Regierung der Arbeiterpartei PT des einst populären Lula in eine schwere wirtschaftliche, politische und soziale Krise geschliddert. Auf Lula folgte 2011 Dilma Rousseff, deren Mandat seit dem 12. Mai mit dem Eröffnen des Amtsenthebungsverfahrens (Impeachment) ruht. Der 68-Jährigen werden Bilanztricks im Staatshaushalt vorgeworfen. Erst Ende August will der Senat über ihr politisches Schicksal entscheiden. Ein Versuch, das politische Klima nicht schon während der Spiele zu vergiften.

Dennoch laufen die landesweiten Proteste pro und kontra Dilma oder deren Statthalter Michel Temer sowie gegen die Korruption weiter. Wie am Sonntag, als in elf Bundesländern sowie der Hauptstadt Brasília die Unzufriedenen zu Tausenden auf die Straße gingen. Immerhin friedlich. In Rio sorgte ein Demonstrationszug an der Copacabana für mediales Aufsehen und informierte mit Plakaten in englischer Sprache gezielt die ausländischen Olympiagäste. Weitere Aufmärsche werden bereits in Internetformen geplant.

Nun gut: Probleme hat es auch wenige Tage vor den Spielen 2012 in London gegeben. Dass auch dort der Privatsicherheitsdienst der Kontrolle an den Eingangstoren der Wettkampfstätten personell nicht gerecht wurde und durch eine Staatsmacht, damals das Militär, diesmal die Nationalgarde, ersetzen werden muss(te), ist sicher keine zufällige Duplizität der Ereignisse, sondern ein Fakt, den das IOC bei kommenden Veranstaltungen im Voraus überdenken sollte. Lange Warteschlangen an den Schaltern am großen Airport Heathrow, 45 km gesperrte Innenstadtstraßen, kleine Zimmer und Betten im Olympischen Dorf, all dies war mit Start der Spiele in der britischen Hauptstadt vergessen. Ob dies auch am Freitag in Rio so sein wird, wenn das Feuer im Maracanã-Stadion aufflackert?

Bei der traditionellen Eröffnungsformel ist Temer jedenfalls ein Pfeifkonzert der brasilianischen Stadionbesucher sicher. Denn Feststimmung sieht anders aus. Bei 11,2 Prozent Arbeitslosigkeit, bei einer Inflation in den zurückliegenden zwölf Monaten um die neun Prozent, bei einem Bruttoinlandsprodukt, das wie zuletzt 1930/31 in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zurückging, steht vielen einfach (noch) nicht der Kopf nach Olympia.

Jedoch: Vor der Fußball-WM 2014 war das Klima wegen drohender Volksproteste und den Verzögerungen beim Bau der teuren Stadien aggressiver, vor allem zwischen Weltverband FIFA und den lokalen Organisatoren. Am Ende wurde es ein tolles Fußballfest. Zurück blieben aber Schulden bei Kommunen und Ländern, nicht vollendete Verkehrsprojekte und weiße Elefanten in Brasília, Cuiába, Manaus, ...

Diesmal wurden alle Wettkampfstätten vorzeitig fertig. Einige mehr, andere im kleinen Umfang einmal kurz sportlich durchgecheckt, und nur im Fall des Velodroms erst gar nicht auf (volle) Belastbarkeit geprüft. Das aus Sibirien herübergeschiffte Holz für die Bahn traf zu spät ein. Die für den Bau der Arena zuständige Firma ging auf der Zielgeraden in Konkurs. Immerhin fanden 44 Testevents unter dem Motto „Aquece Rio“ – Mach dich warm, Rio – statt. Und offenbarten Mängel, die die Alarmglocken schrillen ließen.

So störten Energieausfälle die Kunstturner in der Arena Olímpica sowie die Schwimmer im Parque Aquático Maria Lenk mitten in ihren Probeläufen. Die Arena Olímpica wird wegen ihres erhöhten Energiebedarfs auf Dieselgeneratoren zurückgreifen müssen.

Für die bakterienverseuchten Gewässer der Baía de Guanabara kommt dagegen jede Hilfe zu spät. Zumindest bis zu den Spielen. Statt der angepeilten 80 Prozent werden nun 60 Prozent der sekündlich in die Bucht einfließenden 8000 Liter Abwässer gereinigt. Ein (viel zu) kleiner Erfolg für immerhin schon über 20 Jahre laufende Investitionen.

Und so müssen Segler und Windsurfer in der Baía, aber auch Ruderer und Kanuten in der Lagoa Rodrigo de Freitas um ihre Gesundheit und Medaillen bangen. Bei den Testevents klagten etliche Sportler nach Kontakt mit dem Kloaken-Wasser über Übelkeit.

Entwarnung gab es dagegen beim Thema Zika. Die Zahl der mit dem Virus infizierten Patienten sei seit November zurückgegangen, verkündete am Sonntag Daniel Soranz vom städtischen Gesundheitsamt. Zudem macht das kühle Wetter der vergangenen Tage die Übertragermücke Aedes aegypti flugfaul.

Auf Zika folgte Ciclovia Tim Maia, der Küstenradweg, der sich zwischen Leblon und São Conrado auf 3,9 Kilometer teils über Betonpfeiler schlängelt. Der Einsturz eines 26 Meter langen Teilstücks, von hochschlagender Brandung weggerissen, kostete zwei Menschen das Leben. Das regionale Arbeitsaufsichtsamt berichtete gar von elf Toten seit Januar 2013 auf Baustellen mit olympischer Relevanz – überfahren, abgestürzt, vom Stromschlag getötet. Bei der WM 2014 starben acht Bauarbeiter, in London vor den Sommerspielen 2012 kein einziger.

Ob Sonne oder Regen, Tag oder Nacht: Die Sicherheit – genauer: das akute Fehlen der Selbigen – kennt in Rio keine Uhr- oder Jahreszeiten. In den vergangenen Tagen verbreiteten Arrastões genannte Raubüberfälle in Gruppenformation im innerstädtischen Viertel Flamengo und dem wichtigen Verbindungstunnel Rebouças Panik und sorgten für Skepsis. Doch Verteidigungsminister Raul Jungman gibt sich zuversichtlich: „Wir erwarten 500 000 bis 600 000 Touristen und werden bestmögliche Sicherheit garantieren“, verkündete er selbstbewusst.

Immerhin fährt seit Montag die neue U-Bahn, verbindet auf 16 km Ipanema und die benachbarte Copacabana mit dem Olympiaherz Barra da Tijuca. Bis zum 18. September, dem Schlusstag der Paralympics, können jedoch nur für die Spiele akkreditierte Personen sowie Zuschauer mit Eintrittskarten und speziellem Fahrausweis (Riocard) die Linha 4 nutzen. Erst danach öffnet die Bahn ihre Türen für alle Cariocas.

Dann ist Olympia passé. Herr Bach wird vielleicht nicht von den besten Spielen aller Zeiten sprechen, aber – wie er es selber am Sonntag ausdrückte – von Spielen voller Leidenschaft.

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