GA-Serie "Best of Olympia" So kamen die Olympischen Spiele 1972 nach München

Serie | Bonn · 1972 trifft sich die Jugend der Welt zu den Olympischen Spielen in München. Innerhalb von wenigen Jahren entwickelt die Stadt eine beeindruckende Infrastruktur.

Der feierliche Einzug der Athleten ins Olympiastadion läutet die Spiele 1972 in München ein.

Der feierliche Einzug der Athleten ins Olympiastadion läutet die Spiele 1972 in München ein.

Foto: Imago

Mit diesem Ereignis kann der kleine Junge, gerade fünf geworden, nichts anfangen. Normalerweise wird am Samstagnachmittag im neuen Haus oder auch auf dem Grundstück drum herum gearbeitet. Eltern, Verwandte, Freunde, viele packen an. An diesem Tag nicht. Der Vater hat von einem Feiertag erzählt. Deshalb wird der Esstisch fein hergerichtet und ins Wohnzimmer getragen, sodass alle Familienmitglieder beim festlichen Kaffee- und Kakaotrinken einen freien Blick auf den Fernseher haben. Und sie sehen, dass Menschen aus allen Teilen der Erde winkend in ein großes Stadion einziehen. Dass sie bunt gekleidet sind, ist auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm nicht zu erkennen.

Als der Junge später Lesen gelernt hat, sind die Olympia-Bücher mit die ersten, die er „verschlingt“. Da ist dann davon zu lesen, dass die Mannschaften bei der Eröffnungsfeier am 26. August 1972 nicht, wie bisher, mit Marschmusik begrüßt werden, sondern mit beschwingten, modernen Melodien, oft aus der Heimat. Die Briten mit einem Song der Beatles, die Sowjets mit „Kalinka“ und die Franzosen mit Gilbert Bécaud. 

Die fröhliche Stimmung, die Herzlichkeit der Zuschauer, die erwartungsfrohen Sportler, natürlich auch die rechtzeitig fertiggestellten modernen Wettkampfstätten – so hatte sich NOK-Präsident Willi Daume all das vorgestellt, als er im Herbst 1965 dem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel vorschlug, dass sich die bayerische Metropole für die Olympischen Spiele 1972 bewerben solle. Sein Gedanke: „Es wäre eine gute Gelegenheit, der ganzen Welt zu zeigen, dass das jetzt ein anderes Deutschland ist als das von den Spielen 1936 in Berlin, also ein friedliches und ein gastfreundliches Deutschland“, wie Daume kurz vor seinem Tod in der WDR-Hörfunkserie „100 Jahre Olympische Spiele“ sagte.

Nach Bedenkzeit sagt OB Vogel zu

Vogel ist nach Daumes Besuch „einigermaßen frappiert, verwirrt und nachdenklich“, wie er sich später erinnert. Eine halbe Stunde sei er vor seinem Schreibtisch auf- und abgegangen, schreibt er 2007 in dem Buch „Deutschland aus der Vogelperspektive“. „Hundert Gedanken schossen mir durch den Kopf. Würden die Osteuropäer München akzeptieren? Würde die Hymne der DDR gespielt und ihre Flagge gezeigt werden können? Würde es gelingen, die ersten Strecken der U-Bahn und die S-Bahn statt in zwölf in sieben Jahren fertigzustellen? Und wer sollte die Vielzahl von Olympiabauten finanzieren?“

Nach ein paar Tagen Bedenkzeit sieht der OB, der kürzlich 94-jährig verstorben ist, mehr Chancen als Risiken. Auf dem Oberwiesenfeld, einer Schutthalde aus dem Krieg, sollen ohnehin Sportanlagen entstehen. Warum nicht das Olympiastadion, die Schwimmhalle, die Radrennbahn, das olympische Dorf, das Pressezentrum? Die Idee des Olympiaparks ist geboren und auch das Motto von den Spielen der kurzen Wege. Offenbar überzeugende Argumente für die IOC-Mitglieder, die München im April 1966 gegen Montreal, Detroit und Madrid zur Ausrichterstadt für die XX. Spiele der Neuzeit wählen.

Architektonisch einmaliger Olympiapark

Es ist die Zeit, in der die Stadt boomt. In wenigen Jahren steigt die Einwohnerzahl von 1,0 auf 1,3 Millionen. Riesige Wohnanlagen entstehen in der Peripherie, die Fußgängerzone in der City, U- und S-Bahn zu großen Teilen unter der Erde. „Aus dem Millionendorf München wurde eine moderne Großstadt europäischen Formats“, schrieb Wolfgang Görl jüngst in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem Nachruf für Vogel. Und für all das ist der Zuschlag für Olympia so etwas wie ein Beschleuniger gewesen. Auch fünf Jahrzehnte später sind Touristen beeindruckt, wenn sie die architektonisch einmalige Zeltdachkonstruktion von Günter Behnisch und Frei Otto sehen.

München wird zur heimlichen deutschen Hauptstadt – und auch andere Städte profitieren von Olympia. In Kiel entstehen für die Segel-Wettbewerbe ein neuer Hafen und ein neues Wohnviertel, in Augsburg wird das erste Kanuslalomstadion der Welt gebaut. In Deutschland sind die Menschen stolz auf „ihre Olympischen Spiele“. Aus vielen Teilen des Landes kommen Zuschauer. Und wer weiß: Hätte es das Attentat vom 5. September nicht gegeben und das abrupte Ende der heiteren Spiele, dann wäre vielleicht schon München 1972 als Sommermärchen in die Sportgeschichte eingegangen.

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