Interview mit Michael Scharf „Sportler dürfen später nicht zu den Verlierern gehören“

Bonn · Der Leiter des Olympia-Stützpunktes Rheinland, Michael Scharf, spricht im GA-Interview über eine effektive Sportförderung, duale Karrieren, unterbezahlte Bundestrainer und die Rio-Bilanz.

 Ungewöhnlicher Weg zu Gold: Fabian Hambüchen trainierte teils in Köln, teils mit seinem Vater Wolfgang in Wetzlar. Ihm tat die Flexibilität gut, andere brauchen eine strukturiertere Lösung. FOTO: DPA

Ungewöhnlicher Weg zu Gold: Fabian Hambüchen trainierte teils in Köln, teils mit seinem Vater Wolfgang in Wetzlar. Ihm tat die Flexibilität gut, andere brauchen eine strukturiertere Lösung. FOTO: DPA

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Warum holt Großbritannien 67 Medaillen und Deutschland nur 42? Was wird dort besser gemacht?

Michael Scharf: Das war noch der Ausrichter-Schub von London 2012. Vor diesen Spielen haben die Engländer viel Geld in die Hand genommen und sich auf bestimmte Sportarten konzentriert. Radfahren und Rudern zum Beispiel. Außerdem haben sie Trainer-Kompetenz aus dem Ausland eingekauft. Aber warten Sie mal Tokio 2020 ab, die Engländer werden sich auf Dauer wieder auf dem deutschen Niveau einpendeln.

Heißt das, die deutsche Bilanz war gar nicht so schlecht?

Scharf: Ich würde eine 2- oder eine 3+ geben. Weil immer mehr Nationen Medaillen gewinnen, wird der Kuchen in immer kleinere Stücke aufgeteilt. So gesehen, war das in Ordnung. Australien und China haben viel mehr geblutet. Bei den Chinesen sieht man jetzt, dass der Anti-Doping-Kampf tatsächlich etwas bringt. Das Problem in Deutschland war, dass wir zwischendurch sehr weit hinter unseren Ansprüchen zurücklagen. Am Ende hat sich das relativiert.

Dennoch haben einige Verbände sehr enttäuscht.

Scharf: Stimmt. Fechten, Judo, Boxen, Ringen, Triathlon, Schwimmen, Leichtathletik – da sind wir weit von der Weltspitze entfernt.

Wie ist diese Lücke wieder zu schließen?

Scharf: Grundsätzlich sind Schule und Leistungssport nicht mehr kompatibel, das heißt, die Schule lässt zu wenig Zeit, um früh die notwendigen Trainingsreize zu setzen.

Das wird aber nicht mehr umkehrbar sein.

Scharf: War auch nur eine Feststellung.

Und was kann geändert werden?

Scharf: Wir müssen die Trainer besser bezahlen und mehr wertschätzen. Mancher Bundestrainer lebt von 3000 Euro brutto und weniger. Deshalb ist viel Kompetenz ins Ausland abgewandert. Deutsche Trainer arbeiten in China, Katar und Amerika.

Werden die Heimtrainer, also die Trainer in den Vereinen, genügend gewürdigt?

Scharf: Grundsätzlich sollten die Heimtrainer ihre Athleten auch im Zielwettkampf betreuen. Aber da gibt es immer wieder Dissonanzen mit den Bundestrainern. Wir müssen die Heimtrainer stärken.

Sind Leistungssportler ausreichend abgesichert?

Scharf: Wer oben angekommen ist, kommt meistens gut klar. Ob über die Polizei, die Bundeswehr oder Sponsoren. Und dann gibt's ja noch die Sporthilfe. Das Problem ist, überhaupt oben anzukommen. Bei einem 18-jährigen Schwimmer zahlen oft noch die Eltern. Wir brauchen mehr Geld für die Entwicklung der Sportler, wir müssen die Perspektivkader besser fördern.

Ein Kanute mit fünf olympischen Goldmedaillen hat keineswegs ausgesorgt und womöglich auch seine Ausbildung vernachlässigt. Können Eltern ihren Kindern guten Gewissens zum Leistungssport raten?

Scharf: Natürlich ist da ein biografisches Risiko. Deshalb müssen wir die dualen Karrieren forcieren. Die Perspektivsportler brauchen die Gewissheit, dass sie nicht zu den Verlierern zählen, dass sie aufgefangen werden.

Gibt es genügend Unternehmen, die duale Karrieren ermöglichen?

Scharf: Schon, aber häufig fehlt es an Flexibilität. Lena Schöneborn etwa hatte eine Möglichkeit bei einem sehr renommierten Unternehmen. Da wäre die zeitliche Belastung aber so groß gewesen, dass sie ihren Sport vernachlässigt hätte. Also hat sie es gelassen. Für andere Sportler, die auch ruhigere Phasen im Jahr haben, wäre diese Offerte vielleicht perfekt gewesen.

Wie kann Flexibilität gewährleistet werden?

Scharf: Vor allem über die Laufbahnberatung der Olympiastützpunkte.

Ist Flexibilität auch beim Thema Zentralisierung gefragt?

Scharf: Absolut. Den Kanuten tut es gut, dass sie in Essen ihr Zentrum haben. Fabian Hambüchen dagegen brauchte die individuelle Lösung. Sonst hätte er nie Gold geholt. Man hatte es beim Verband nicht gerne gesehen, dass er in Köln sein Sportstudium aufnahm. Aber er wollte auch etwas für seinen Kopf tun. Er hat dann teilweise in Köln trainiert und teilweise in Wetzlar mit seinem Vater. Eine starre Lösung wäre nicht gut gewesen für ihn.

Teilen Sie die Kritik einiger Olympioniken, dass sich kein deutscher Politiker in Rio hat sehen lassen?

Scharf: Ich kann diese Sportler verstehen. Wenn die Fußballer im WM-Finale stehen, kommen ganze Horden von Politikern, und Frau Merkel steht in der Kabine für Selfies zur Verfügung. Auch ich hätte mir gewünscht, dass mal ein Politiker rüberfliegt.

Man könnte das als fehlende Wertschätzung interpretieren. Ist die Medaillenzählerei bei Olympia überhaupt noch zeitgemäß?

Scharf: Der olympische Sport hat große Probleme: Doping, Korruption, Gigantismus. Viele fragen sich deshalb, ob wir den Leistungssport in seiner bisherigen Form noch brauchen. Ich persönlich bin der Meinung, dass ein Land wie Deutschland, das an Leistung interessiert ist, sich Leistungssport leisten muss. Aber ich weiß, dass es andere Tendenzen gibt. Vielleicht zähle ich nicht mehr zum Mainstream.

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