Radrennen in Frankreich Was die verschobene Tour de France für die Franzosen bedeutet

Paris · Die Tour de France ist wegen der Corona-Pandemie auf Ende August verschoben. Das ist ein Stich ins Herz vieler Franzosen: Jedes Jahr stehen weit über zehn Millionen Menschen am Straßenrand und jubeln. Für sie ist das Radrennen mehr als nur ein Sportereignis.

 Die Tour de France ist auf Ende August verschoben worden. (Archivfoto)

Die Tour de France ist auf Ende August verschoben worden. (Archivfoto)

Foto: AP/Christophe Ena

Anne Monroy kann sich noch sehr gut an ihre erste Begegnung mit „diesen verrückten Radfahrern“ erinnern. Als Kind wohnte sie mit ihrer Familie in dem kleinen Dorf Warlaing im äußersten Norden Frankreichs. Im Frühjahr gab es immer den einen, besonderen Tag, wenn die verdreckten Radrennfahrer auf ihrem Weg von Paris nach Roubaix über das Straßenpflaster vor ihrem Haus vorbeibrausten. Anne Monroy erinnert sich, dass ihre Mutter den frierenden Streckenposten Brote und heißen Tee brachte. So ging das jahraus, jahrein – bis Anne Monroy wegzog aus Warlaing.

Für einen Besuch beim Klassiker Paris-Roubaix ist inzwischen der Weg zu weit, aber die Tour de France lässt sie sich nicht entgehen. Sie sei nicht radbegeistert, versichert Anne Monroy, dennoch fährt die Frau fast jedes Jahr zu einer der Etappen und stellt sich mit Mann und Kindern an den Straßenrand. Es sei „irgendwie in ihr drin“, es fühle sich an, wie eine Reise in die eigene Kindheit, inklusive belegter Brote und heißem Tee. Jeder Franzose kann eine solche Geschichte erzählen. Es ist nicht nur der Sport, es sind solch prägenden Erinnerungen, die Frankreich zu einer Radnation machen.

Über allem thront natürlich die Tour de France. Die große Schleife rund um Frankreich ist mehr als ein einfaches Rennen über knapp 3500 Kilometer, es ist eine Art Gemeinschaftserlebnis. Jedes Jahr zieht es bei Wind und Wetter weit über zehn Millionen Menschen an die Straßenränder, wo sie für einige Sekunden dem Fahrerfeld zujubeln. Es kostet keinen Eintritt, den Helden nahe zu sein. Die Tour, die drittgrößte Sportveranstaltung der Welt nach der Fußball-Weltmeisterschaft und den Olympischen Spiele, ist ein proletarisches Spektakel, ein Epos für jedermann im Heimatland von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Für drei Wochen bestimmt die Tour im Juli den Tagesablauf vieler Franzosen. Sie gibt dem Opa das Recht, sich viele Stunden auf das heimische Sofa vor den Fernseher zu setzen, während draußen die Sonne scheint – ohne sich ständig Vorwürfe anzuhören zu müssen. Die Oma nimmt neben ihm Platz und bestaunt die Landschaften, die während der stundenlangen Übertragungen vor dem Auge der Nation vorüberziehen. Die Tour ist auch das Panoramafenster Frankreichs, eine einzigartige Werbeveranstaltung für Schlösser, Seen, Städte und Täler. Und zu jeder Etappenankunft findet am späten Nachmittag in Frankreichs Unternehmen eine kollektive Arbeitsniederlegung statt, um am Livestream dem Sieger zu huldigen.

Aus diesem Grund war die Absage der Tour im Sommer wegen der anhebenden Corona-Pandemie ein Fiasko von nationaler Tragweite. Es wurde daran erinnert, dass die Rundfahrt in ihrer 117-jährigen Geschichte bisher nur wegen der beiden Weltkriege (1915 bis 1918 und 1940 bis 1946) ausgefallen ist. Also einigte man sich darauf, das Rennen um zwei Monate zu verschieben. Gestartet wird nun am 29. August und am 20. September soll die Karawane in Paris auf den Champs-Élysées eintreffen.

Doch nicht nur Radpuristen sind skeptisch. „Was soll das denn für eine Tour sein?“ fragt während einer Diskussion im Sportsender „L’Équipe“ ein Kritiker in die Runde. Keiner gibt ihm eine Antwort. Eine Bergankunft ohne die Bilder des Führenden, der sich mühsam seinen Weg durch diesen unglaublichen Tunnel aus einer frenetischen Masse Mensch bahnt? Und am Ende keine Autogramme, keine Fan-Fotos mit den Stars und ein gelbes Trikot mit Maske auf dem Podium?

Den Menschen ist angesichts der Bedrohung durch die Corona-Pandemie nicht zum Feiern zumute, schreibt der Schriftsteller und Sportenthusiast Philippe Delerm. Die Tour de France aber lebe von Euphorie, von Nähe und Gemeinschaft – all das, was der Kampf gegen das Corona-Virus im Moment verbietet. Reduziert auf ihre sportliche Leistung sei die schwerste Rundfahrt der Welt nicht mehr, als jedes andere Sportereignis. Die Tour ist ein Mythos, ihre Absage sei wie ein kleiner Tod, den es zu akzeptieren gelte, mahnt der Intellektuelle.

Die Tour-Macher aber wollen ihre Stars an den Start schicken. Denn es geht nicht nur um das Prestige, sondern auch um sehr viel Geld. Seit einigen Tagen aber steigen die Infektionszahlen in Frankreich wieder stetig an und die Angst vor einer zweiten Corona-Welle wird größer. Am 29. August soll in Nizza der Startschuss zur 107. Frankreichrundfahrt fallen. So ist der Plan, das letzte Wort aber hat das Virus.

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