Thema des Jahres - Hitler setzt Deutschland aufs Spiel

Der Krieg als Mittel der NS-Außenpolitik - "Ich habe in meinem Leben immer va banque gespielt"

Am 23. Mai 1939 eröffnete Hitler den Spitzen der Wehrmacht, daß weitere Erfolge nicht mehr ohne Blutvergießen zu erringen seien. Zwar würde Deutschland nicht "in einen Krieg hineingezwungen, aber um ihn herum kommen wir nicht". Ziel sei die Erweiterung des Lebensraums und die Sicherstellung der Ernährung. "Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht." Bei einem Schlag gegen Polen müsse jedoch ein längerer Mehrfrontenkrieg vermieden werden.

Der deutsch-russische Nichtangriffspakt vom 23. August baute die Brücke vom Plan zur Tat. Aus Stalins Sicht brachte ein Bündnis mit dem ideologischen Todfeind Zeitgewinn zur Rüstung und mit der Teilung Polens eine beträchtliche Verschiebung der sowjetischen Einflußzone nach Westen. Zudem wuchs die Aussicht auf die Rolle des lachenden Dritten beim Kampf der alten kapitalistischen Großmächte. Doch auch deren mögliche Verständigung untereinander steigerte Stalins Mißtrauen. Denn für ihn blieb die militärische Passivität des Westens nach der Kriegserklärung an Deutschland am 3. September rätselhaft.

Erst der 10. Mai 1940 sorgte nach dem Zwischenakt in Norwegen auch für definitive Klarheit im Westen. Denn der schärfste Gegner Deutschlands, Winston S. Churchill, wurde just am selben Tag zum Premierminister bestellt, als die deutsche Westoffensive unter Verletzung der Neutralität Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande begann und bereits am 22. Juni mit Hitlers Triumph endete. Dagegen erlitt Deutschland in der Luftschlacht um England nicht nur schwere Einbußen seiner fliegerischen Substanz; auch der Plan "Seelöwe" einer deutschen Invasion mußte am 17. September zurückgestellt werden.

Zum Hauptfeind Hitlers wurde in dieser Kriegsphase die Zeit. Stalins Rüstung lief auf Hochtouren, im September wurden von Washington den Briten 50 Kriegsschiffe überlassen, und am 19. Juli hatten die USA den Bau einer Zwei-Ozean-Großflotte beschlossen. Das Projekt einer antibritischen Kontinentalblock-Strategie mit Spanien und der UdSSR als Außenzangen gab Hitler nach der Begegnung mit dem sowjetischen Außenminister Molotow in Berlin (12./13. November) definitiv auf, weil dessen Forderungen Stalin als Hauptgegner Deutschlands in Europa überdrastisch markierten. Denn Molotow hatte sich an deutschen Überlegungen zur Verteilung des britischen Empires uninteressiert gezeigt, dagegen aber die Forderungen nach sowjetischen Einflußsphären von Schweden bis zum Bosporus, nach Finnland, Bulgarien und Rumänien erhoben. Hitler reaktivierte daraufhin seinen Entschluß vom 31. Juli, im Frühjahr 1941 einen etwa fünfmonatigen Feldzug gegen Rußland zu führen. Jetzt erging die Weisung "Barbarossa", "auch vor Beendigung des Krieges gegen England die UdSSR in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen". Am 15. Mai sollten die Vorbereitungen abgeschlossen sein. Doch Mussolinis eigenmächtige Eröffnung eines Parallelkrieges in Nordafrika und auf dem Balkan erzwangen eine vermutlich für den Kriegsverlauf nicht unerhebliche Verschiebung des Angriffstermins auf den 22. Juni. Denn Italien hatte sich in militärisch fatale Lagen manövriert, die Hitler unter Abzweigung erheblicher Angriffskräfte gegen Stalin zum Einsatz in Afrika und Südosteuropa zwangen. "Der Balkankrieg ist . . . bedauerlicherweise die Voraussetzung für den Sieg über England", erklärte Hitler seinen Befehlshabern. Am 17. April kapitulierte Jugoslawien, am 21. April Griechenland, am 20. Mai wurde Kreta aus der Luft besetzt. Hatte man bis dahin von den militärischen Aktionen als Kampfhandlungen im Rahmen eines europäischen "Normalkriegs" sprechen können, so erhielt der Krieg mit dem Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 eine neue Qualität. Es handle sich nunmehr, so Hitler am 30. März zu rund 200 Befehlshabern, um einen Vernichtungskrieg, um den Kampf zweier Weltanschauungen. "Im Osten ist Härte mild für die Zukunft." Der Standpunkt soldatischen Kameradentums gelte im Osten nicht. "Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad" (Halder-Tagebuch). Den vermeintlich raschen Sieg vor Augen, bestimmte Hitler am 8. Juli "grundsätzlich", Leningrad und Moskau "dem Erdboden gleichzumachen". Statt dort im Winter die Menschen ernähren zu müssen, sei eine "Volkskatastrophe" angebrachter. Am 16. Juli erläuterte der Diktator im engsten Kreis sein Vorhaben: "Grundsätzlich kommt es darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können."

Doch nach gewaltigen Anfangserfolgen in Rußland fraß sich die deutsche Feuerwalze von 153 Divisionen im Widerstand und schlechten Wetter fest. Am 19. November erzwang die Gesamtlage das Eingeständnis Hitlers, die feindlichen Mächte könnten einander nicht besiegen. Nach fünf Monaten betrugen die deutschen Verluste bereits 200000 Mann. Während der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Fedor von Bock, besorgt vom nahen Zeitpunkt einer völligen Erschöpfung der Truppe ausging, startete Stalin am 5. Dezember eine Gegenoffensive. War angesichts dieser Situation bereits alle Vernunft bei Hitler verloren, als er fünf Tage nach Japans Überfall auf Pearl Harbor (7. Dezember) den USA den Krieg erklärte? Nicht abwegig erscheint als strategisches Kalkül, die Kräfte der USA in einen atlantischen und pazifischen Kampfraum aufzuspalten und mit Berlins Treuebekundung zum Dreimächtepakt (Rom-Berlin-Tokio) Japan von möglichen, für Deutschland nachteiligen Arrangements mit Washington abzuhalten. Immerhin versprachen die Paktmitglieder einander, keinen Sonderfrieden mit den USA abzuschließen, die als "Arsenal der Demokratie" (Roosevelt) zur Weltrüstungskammer für die Gegner der Hitler-Koalition aufstiegen (Lend-Lease-Act vom 11. März 1941).

Obgleich im russischen Winter 1941/42 das Blitzkriegskonzept als Ausgleich für fehlende deutsche Tiefenrüstung gescheitert war, blieb diese entscheidende Tatsache noch 1942 durch deutsche Teilerfolge überdeckt. Der Kampf um die strategische Initiative im Osten (Kursk, Charkow, Woronesch, Rostow, Wolchow-Kessel) wogte hin und her, bis sich mit der Schließung der sowjetischen Angriffszangen bei Kalatsch am Don (22. November 1942) das Schicksal der 6. Deutschen Armee bei Stalingrad abzeichnete.

Unterdessen hatte sich die Luftherrschaft der Alliierten über dem Reichsgebiet verstärkt. Lübeck wurde Ende März das erste Ziel der zunehmenden Flächenbombardierung deutscher Großstädte.

Da gleichwohl Lebensraum- und Rassekrieg für Hitler identische Antriebsmotive bildeten, wurde trotz der bedrängenden Feindlage die Vernichtungspolitik nach der Wannsee-Konferenz (20. Januar 1942) verschärft. Der Mordmaschinerie fielen nach Berechnungen Gerald Reitlingers 4,2 bis 5,7 Millionen europäische Juden, darunter 160000 aus Deutschland, zum Opfer. Zudem wurde von Himmler am 12. Juni der seit Mitte 1941 verfolgte "Generalplan Ost" gebilligt. Er sah die Verbringung von 30 Millionen Menschen (Tschechen, Polen, Ukrainer, Weißruthenen) nach Sibirien vor. Dadurch sollte Siedlungsraum für die "Germanisierung" geschaffen werden.

Im Jahresverlauf 1943 ging das Gesetz des Handelns endgültig an die Alliierten über. Die Vernichtung der 6. Armee, die Kapitulation der Heeresgruppe Afrika, der Abbruch der Schlacht im Atlantik (allein im Mai Verlust von 43 deutschen U-Booten), die Überlegenheit der Aufklärungstechnik auf Seiten der Alliierten ("Ultra"), dann der Ausgang der Panzerschlacht im Kursker Bogen zwischen 2000 deutschen Panzern und 4000 russischen sowie die Landung der Alliierten auf Sizilien verdeutlichten die Überlegenheit der Anti-Hitler-Koalition. Sie verlangte am 21. Januar 1943 in Casablanca die bedingungslose Kapitulation und bestimmte bereits zehn Monate später auf der Konferenz der Großen Drei in Teheran die Aufteilung Deutschlands sowie die Oder als künftige polnische Westgrenze. Italien war unterdessen vom Achsen-Partner zum Feindstaat des Reiches geworden, auf das die US-Armeen aus dem Süden gegen die "Festung Europa" vorrückten. Trotz schwerster Abwehrkämpfe und punktuellen Aufbäumens (deutsche Luftangriffe auf London von Januar bis April 1944, Verschuß von 17 200 V-Waffen, Ardennen-Offensive) wurde das Reich militärisch zusammengedrückt. Im Westen konnte die deutsche Wehrmacht nicht verhindern, daß zwischen dem 6. Juni und 29. Juli 1944 in der Normandie eine Streitmacht von 1,566 Millionen Mann an Land ging. Am 25. April 1945 reichten sich Amerikaner und Sowjets die Hände bei Torgau an der Elbe.

Unterdessen versuchte nach Hitlers Selbstmord am 30. April die geschäftsführende Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz von Flensburg-Mürwik aus mit Teilkapitulationen Zeit zu gewinnen. Sie wurde massiv genutzt, um deutsche Truppen durch Überstellung in den britischen Machtbereich vor sowjetischer Gefangenschaft zu bewahren. Am 7./8. Mai kapitulierte die Wehrmacht bedingungslos. Am 23. Mai ließ Eisenhower die Reichsregierung verhaften. Am 5. Juni übernahmen die Siegermächte die oberste Staatsgewalt in Deutschland. 55 Millionen Menschen hatten ihr Leben verloren, darunter 5,25 Millionen deutsche Soldaten und Zivilisten.

Vor dem Polen-Feldzug hatte Göring seinen "Führer" gebeten, mit dem Vabanquespiel aufzuhören. "Ich habe in meinem Leben immer va banque gespielt", hatte Hitler geantwortet. Der Einsatz dieses Spiels hieß Deutschland. Daß dieses sich dazu hergab, bleibt mit Churchills Maxime zu erschließen, wonach man kein Problem beurteilen dürfe, "ohne dabei auf die Atmosphäre und das Umfeld zu achten".

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