Thema des Jahres - Nirgendwo ein Schlupfloch

Die DDR riegelt sich mit dem Bau der Mauer ab

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" - selten hat es eine dreistere Lüge aus Politikermund gegeben. Wenige Tage, nachdem SED-Chef Walter Ulbricht alle herumschwirrenden Gerüchte über eine Abriegelung der DDR und Ost-Berlins in den Bereich kühner Phantasie verwiesen hatte, begann der Mauerbau. Geleitet wurde die streng geheim gehaltene Aktion von Erich Honecker, Ulbrichts späterem Erben, in Absprache mit den Staaten des Warschauer Pakts. Der Mauerbau, die Abriegelung der DDR Richtung Westen schockte die Welt, sorgte in den nachfolgenden Jahren aber auch dafür, daß die DDR sich innenpolitisch festigte. Die Menschen begannen sich mit den Verhältnissen zu arrangieren, nachdem jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten war. Erst 37 Jahre später sollten die wie betoniert erscheinenden Verhältnisse im anderen deutschen Staat ins Rutschen geraten. Honecker freilich hatte da schon jeden Bezug zur Realität verloren. Die Mauer könne noch 50 oder 100 Jahre stehen, verkündete er, als sich sein Volk schon via Ungarn Richtung Westen aufgemacht hatte. Der Abriß dieser "steinernen Absage an die Menschlichkeit" (Richard von Weizsäcker) war für die Pioniere der NVA eine eher leichte Übung.

Über die Jahre war der Betonwall, der Berlin in zwei Teile zerriß, immer wieder perfektioniert worden. Den Stacheldrahtrollen der ersten Tage folgten gemauerte Sperrwände, die wiederum später durch etwa 3,5 Meter hohe Betonplatten ersetzt wurden. 155 Kilometer maß die Gesamtlänge rund um West-Berlin, nirgendwo ein Schlupfloch. Gräben und Laufanlagen für abgerichtete Wachhunde, Kontaktzäune und Schützenstellungen zwischen Vorder- und Hinterlandmauer machten die Staatsgrenze fast unüberwindlich.

Viele versuchten es trotzdem - und zahlten mit ihrem Leben für den Versuch, aus dem einen Teil Berlins in den anderen zu gelangen. Der 47jährige Rudolf Urban war das erste Opfer. Im August 1961, sechs Tage nach der Abriegelung, starb er, als er die Grenze zwischen Mitte und Wedding an der Bernauer Straße überwinden wollte. 20 Jahre alt war das letzte Maueropfer. Chris Gueffroy wurde im Februar 1989, neun Monate vor dem Fall der Mauer, erschossen. Gueffroy hatte irrtümlich geglaubt, der Schießbefehl sei aufgehoben.

Heute sind die Spuren der Mauer aus dem Berliner Stadtbild weithin verschwunden. Ein rotes Band vor dem Brandenburger Tor erinnert an ihren Verlauf. An drei weiteren Stellen stehen kleinere Reste. Ein Abschnitt an der Bernauer Straße ist zum Denkmal ausgebaut worden. Überzeugend ist das nicht geworden. In aller Welt stehen heute Mauerreste. Anfänglich sind sie für teures Geld verkauft oder verschenkt worden. Was man nicht losschlagen konnte, wurde zu Granulat zerkrümelt, für den Straßenbau.

Von den Mauerschützen bis hin zum Politbüro mußten sich kleine und große Täter vor der Berliner Justiz verantworten. Doch die Prozesse endeten vielfach unbefriedigend. Der Rechtsstaat tat sich schwer, Taten einer Diktatur zu ahnden. Honecker schied krankheitsbedingt vorzeitig aus seinem Verfahren aus. Egon Krenz, Honeckers kurzzeitiger Nachfolger, kam mit sechseinhalb Jahren Haft wegen der Todesschüsse an der Mauer davon. Gegen dieses Urteil hat die Berliner Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Es ist ihr zu milde. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, bleibt Krenz auf freiem Fuß.

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