Thema des Jahres - Zeitenwende in der Kirche

Johannes XXIII wird Nachfolger von Pius XII - "Machen wir den Spaltungen ein Ende"

Als die Glocken von Castel Gandolfo am 9. Oktober 1958 zu ungewohnt früher Stunde läuteten, wußten die Menschen, daß der Papst gestorben war. Aber kaum jemand ahnte, daß nicht nur ein Pontifikat, sondern eine kirchengeschichtliche Epoche zu Ende gegangen war. 19 Jahre lang hatte Pius XII. an der Spitze der katholischen Hierarchie gestanden, doch seine Handschrift war schon früher sichtbar geworden - besonders in Deutschland: Der am 2. März 1876 als Sohn eines Vatikanjuristen in Rom geborene Eugenio Pacelli hatte als Nuntius in Berlin die Konkordate mit Bayern (1924) und Preußen (1929) sowie als Kardinalstaatssekretär Pius' XI. das Reichskonkordat (1933) ausgehandelt und dessen Enzyklika "Mit brennender Sorge" (1937) gegen den Nationalsozialismus mitverfaßt. Vergeblich hatte er nach seiner Wahl zum Papst am 2. März 1939 versucht, den Zweiten Weltkrieg durch persönliche Diplomatie zu verhindern oder zumindest abzukürzen. Das und sein stiller Einsatz zur Rettung vieler Juden kann bis heute in den Augen vieler seine größte Unterlassung nicht aufwiegen: den Verzicht auf eine öffentliche Verdammung des Holocaust.

Schon zu Lebzeiten galt Pius XII. als "letzter Papst des 19. Jahrhunderts", dessen Geist viele seiner Entscheidungen atmeten - so die Heiligsprechung des "Antimodernistenpapstes" Pius X., die Maßregelung französischer Jesuiten, deren Théologie nouvelle Christentum und Moderne versöhnen sollte, und die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Die Kirche, die er hinterließ, war zwar eine spirituelle Macht von hoher moralischer Autorität; aber auf die politischen, gesellschaftlichen und technisch-wissenschaftlichen Umwälzungen der Zeit war sie kaum vorbereitet.

Das sollte jener Mann ändern, auf den sich die Kardinäle nach schwierigem Konklave am 28. Oktober 1958 als neuen Pontifex maximus einigten: Angelo Giuseppe Roncalli, am 25. November 1881 als Sohn eines Bauern in Sotto il Monte bei Bergamo geboren, Professor für Kirchengeschichte, Sanitäter und Feldgeistlicher im Ersten Weltkrieg, päpstlicher Diplomat an verschiedenen Einsatzorten und seit 1953 Patriarch von Venedig. Schon die Namenswahl war eine Überraschung: Einen Johannes XXIII. hatte es bereits gegeben; er war vom Konstanzer Konzil 1415 abgesetzt worden. Mit seinem direkten Vorgänger verband ihn das Alter - er war nur fünf Jahre jünger. Sonst waren die Unterschiede beträchtlich: Dem asketischen, allem Irdischen fast entrückten Pius folgte mit Johannes un grasso (ein Dicker), der erste "Papst zum Anfassen", der statt aristokratischer Würde heitere Gelassenheit und statt autoritärer Strenge verständnisvolles Mitempfinden ausstrahlte. Bald wurden über ihn zahllose Anekdoten verbreitet. Für manche sorgte er selbst. So erzählte er, daß ihm die Bürde des Amtes anfangs den Schlaf geraubt habe: "Aber dann sah ich einmal im Traum Jesus, der mir zuflüsterte: “Johannes, nimm dich nicht so wichtig!„ Seitdem schlafe sich wieder gut."

Dafür brachte er andere um den Schlaf - jene Kardinäle etwa, die er im Januar 1959 mit seinem Plan eines "allgemeinen Konzils für die Gesamtkirche" überraschte: "Wir wollen keinen historischen Prozeß aufziehen", erklärte er, "wir wollen nicht aufzuzeigen suchen, wer recht und wer unrecht hatte . . . Wir wollen nur sagen: Kommen wir zusammen, machen wir den Spaltungen ein Ende." Bald sprach nicht nur die katholische Welt vom aggiornamento, von der Aktualisierung der Kirche und ihrer Lehre: Auch die einst verurteilten nichtkatholischen Christen, die lange diskriminierten Juden und die allzuoft ausgegrenzten Angehörigen der übrigen Weltreligionen wurden von diesem Papst ernstgenommen und zum Dialog eingeladen. Am 11. Oktober 1962 eröffnete er im Petersdom vor rund 2500 Bischöfen aus aller Welt das Zweite Vatikanische Konzil, das der Kirche eine neue, zukunftweisende Orientierung geben sollte. Sein Lebenswerk war damit vollendet: Noch vor Beginn der zweiten Sitzungsperiode erlag Johannes XXIII. am 3. Juni 1963 in Rom einem Krebsleiden.

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