GA-Interview mit Rudi Völler „Weltmeister bist du ein Leben lang“

LEVERKUSEN · Deutschlands einstiger Stürmer-Star spricht im Gespräch mit dem General-Anzeiger über die WM, den Job des Bundestrainers, Großkreutz und Effenberg.

 Es gibt ungemütlichere Arbeitsplätze: Rudi Völler im Büro mit Blick aufs Spielfeld der Bayarena.

Es gibt ungemütlichere Arbeitsplätze: Rudi Völler im Büro mit Blick aufs Spielfeld der Bayarena.

Foto: Wolfgang Henry

Sein Blick schweift über dieBayarena, das heutige Reich von Rudi Völler. Der Sportdirektor von BayerLeverkusen ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Als ehemaliger Bundestrainerkann er nachfühlen, was im Moment 8000 Kilometer entfernt in Joachim Löwvorgeht. Mit Völler sprachen in Leverkusen Berthold Mertes und HartmutEickenberg.

Herr Völler, wären Sie heute noch einmal gerne Bundestrainerangesichts der Fülle und Qualität an Spielern?
Rudi Völler: Die Frage ist mir schon häufiger gestelltworden. Es war okay damals, aber es waren ganz andere Voraussetzungen. Es gabnicht diese offensive Wucht, die wir jetzt seit einigen Jahren haben. Wenn mansich vorstellt, dass ein Ausnahmespieler wie Marco Reus vor zwölf Jahrenausgefallen wäre, dann wäre Untergangsstimmung gewesen in Deutschland. Heuteweißt du genau: Du hast den Poldi, du hast den Schürrle, den Götze, denDraxler, den Müller – es ist unglaublich, wie viele Spieler mit gigantischen Offensivqualitätenwir haben.

2002 hatten sie nicht diese Tiefe im Kader - dieMöglichkeiten von Joachim Löw hätten Sie sicher gerne gehabt...
Völler: Ich hatte einen Michael Ballack, einen BerndSchneider einen Miro Klose und einen Olli Kahn im Tor. Christoph Metzelder undThorsten Frings haben damals eine tolle WM gespielt, wir hatten Olli Kahn imTor. Ohne Ballack im Finale wurde es schwierig. Klar, spielerisch waren wirnicht so stark im Vergleich zu heute.

Und sind trotzdem Vizeweltmeister geworden.
Völler: Ja, wir haben das ganz ordentlich gemacht.

Vergleichen Sie die Stärken der Teams von 2002 und 2014!
Völler: Bei aller spielerischen Qualität der aktuellenAuswahl ist natürlich auch die körperliche Fitness wichtig. Die hattenwir 2002. Es ist immer unsere Qualität gewesen, dass wir Mannschaften am Starthatten, die nicht nur Luft für drei, sondern auch für sieben Spiele hatten. DerTeamgeist bei uns damals war enorm.

Was ist anders an der Ausgangssituation vor der Endrunde?
Völler: Wir haben, glaube ich, nicht so den Druck gespürtwie die jetzige Elf. Einen unmenschlichen Druck habe ich vorher gespürt, in denRelegationsspielen gegen die Ukraine.

Man stelle sich vor, Deutschland wäre nicht bei der WM dabeigewesen...
Völler: ... dann wäre ich der einzige Bundestrainer derGeschichte, der eine WM verpasst hätte. Ich habe selten in meinem Leben einenDruck gespürt wie in dieser Woche. Das war brutal. Die WM selbst bedeutete dannnatürlich auch Druck und Stress, aber in Deutschland hieß es ja: Wenn ihr dieVorrunde übersteht, dann ist das schon ein Teilerfolg. Die Achtelfinalteilnahmewar dann schon mal was. Das ist ja heute nicht mehr so. Da heißt es gleich, abdem Achtelfinale geht die WM erst los. Mein Vorteil war damals die geringereErwartungshaltung. Alles, was weniger ist als das Halbfinale, wird ja 2014 alsEnttäuschung angesehen.

[kein Linktext vorhanden]Sie sprachen von unmenschlichem Druck. In den vier WM-Wocheninteressiert sich kaum jemand für die Politik oder andere Dinge. Esinteressiert nur, was macht die Nationalmannschaft, was macht derBundestrainer? Wie geht man mit dieser Situation um?
Völler: Es gibt kein Allheilmittel, wie man damit umgeht.Ich war vorher schon zwei Jahre Bundestrainer, hatte drei Weltmeisterschaftenals Spieler erlebt. Mit dieser Erfahrung ist dir die Bedeutung klar - duweißt, was auf dich zukommt.

Was ist zu tun?
Völler: Man muss sich befreien von den Medien. Klar, es gibtjeden Tag eine Pressekonferenz, aber man darf auf keinen Fall alles lesen. Wirhatten damals den Vorteil, dass es noch kein Internet gab und keineSmartphones. Das ist heute wie eine Sucht. Wenn ich meine Söhne sehe, diekönnen ohne das Ding ja nicht mehr leben. Der Vorteil dieser Dinger: Langeweilewie früher im Trainingslager gibt es nicht mehr.

Der Prozess vor und während des Turniers - hat der auchAuswirkungen auf ihre Verhaltensweise, und heute auf die von Jogi Löw?
Völler: Vor und nach Spielen muss man dringendrunterkommen.

Braucht man ein Schutzschild?
Völler: Familie und Frau helfen da, nach dem Motto: Du bistzu Hause nicht der Bundestrainer. Dann kehrt Normalität zurück.

Was passiert in den vier bis Wochen vor und während desTurniers?
Völler: Wenn man Nationaltrainer ist, dann weiß man genau:Nach der WM ist wieder Luft zum Durchatmen. Als Bundesligatrainer dagegen istman ständig in der Mühle. Das Bewusstsein, zwischendurch den Akku aufladen undabschalten zu können, hilft sehr.

Und auf Clubebene?
Völler: Wie Otto Rehhagel ein Leben lang jeden Tag auf demTrainingsplatz, das ist für mich bewundernswert. Ich habe es eine kurze Zeitbei AS Rom gemacht, bin in Leverkusen zweimal eingesprungen und habefestgestellt: mir lag mehr die Arbeitsweise eines Verbandstrainers. Super, dassich das vier Jahre für Deutschland machen durfte.

Hört sich fast an, als würde sie eine solche Aufgabe nocheinmal reizen.
Völler: Nein, heute nicht mehr. Vor einigen Jahren hatte ichdie eine oder andere Anfrage, irgendwo anders Nationaltrainer zu werden, aber ich bin hier und heute glücklich in meiner jetzigenPosition.

Wenn Sie 2004 in Portugal die Vorrunde überstanden hätten,wäre es dann ein paar Jahre mit Rudi Völler weitergegangen? AnBeliebtheit hat es ihnen ja nicht gemangelt.
Völler: Dann wäre ja auch kein Grund da gewesen. Aber ichbin in solchen Dingen sehr konsequent. Mir war klar, wenn wir es nichtschaffen, dann bin ich für die Mission WM 2006 im eigenen Land nicht geeignet.Da musstest du jemanden haben als Fahnenträger. Als Bundestrainer bist du imFokus. Du musst unverbraucht sein, und das warich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Jürgen Klinsmann, der nach dem 1:4 gegen Italien wenigeWochen vor der WM ja auf der Kippe stand, war im Endeffekt mit seiner frischenArt zum richtigen Zeitpunkt der richtige Mann, oder?
Völler: Es musste einfach ein neuer her, und der Jürgen hatdas gut gemacht.

Man diskutiert oft über die stärkste Nationalelf allerZeiten: dann ist von der 72er die Rede, oder von der 90er. Zählte die von 2002 zu den schlechtesten, obwohl sieVizeweltmeister wurde?
Völler: Der deutsche Fußball war damals tatsächlich in derTalsohle - im Grunde schon unmittelbar nach 1996. Dabei waren wir 1994 von denEinzelspielern vielleicht sogar noch besser als beim WM-Sieg 1990gewesen. Der junge Sammer und der junge Effenberg waren schon dabei. Ausunterschiedlichen Gründen scheidest du dann im Viertelfinale aus. 1996 das warein Aufzucken, der EM-Titel, danach hast du gemerkt: es wird weniger, andereLänder haben uns überholt. Diese Phase ging bis 2002. Und 2004, trotz desfrühen Ausscheidens in Portugal, hat man schon gemerkt, da kommt wieder wasnach. Lahm und Schweinsteiger haben debütiert. Den Poldi vom damaligenZweitligisten 1. FC Köln habe ich in der letzten Minute schnell nochmitgenommen.

Wie kam es zur Trendwende?
Völler: Ab der EM-Pleite 2000 gab es im DFB permanentSitzungen, was wir verbessern können. Es wurde auch viel umgesetzt, vor allenDingen in den Vereinen wurde besser gearbeitet. Alles binnen zwei Jahren zuändern, geht natürlich nicht, aber die ersten Erfolge deuteten sich 2004 an.

Man hat den Eindruck, als sei der jetzt nachkommendeSpielertyp offensiver Mittelfeldspieler wie Özil, Götze und jüngst Max Meyersehr gleichförmig. Fehlen Ihnen da die körperlich starken Spieler ein wenig?
Völler: Die Spielweise hat sich in den anderen Ländern auchgeändert. Das sieht man in Spanien. Der Fußball hat sich anders entwickelt.Wenn die Schürrles und Reus dieser Welt abgehen wie Raketen, das ist dochherrlich zu sehen.

Aber Alternativen im deutschen Angriff würden doch nichtschaden...
Völler: Der Jogi wird sich das schon überlegt haben, bei den Top-Alternativen, die er im Sturm hat. Der Ausfall von Reus tutallerdings weh, zumal der Junge zuletzt in einer super Verfassung war.

Wie sind Sie als Bundestrainer den Spielerngegenübergetreten? Haben Sie Ihnen viel Freiraum gelassen oder sie eherkaserniert? Wie war das Verhältnis zu den Spielern?
Völler: In erster Linie von Vertrauen geprägt. InMannschaftssportarten gehört sicher mehr Disziplin dazu als im Tennis. DieAbläufe müssen stimmen, etwa alle pünktlich zum Training und den Sitzungen dasein.

Wie hätten Sie in Sachen Großkreutz reagiert? War esrichtig, an ihm festzuhalten?
Völler: Ich hätte ihm die dunkelgelbe Karte gezeigt, ihnaber auch trotzdem mitgenommen.

Früher wäre das wahrscheinlich anders gelaufen - Stefan Effenbergwurde 1994 von Bundestrainer Berti Vogts von der WM in den USA nach Hausegeschickt, weil er Zuschauern den Stinkefinger zeigte ...
Völler: Darüber habe ich oft mit Berti diskutiert. Diedamaligen Umstände darf man nicht außer Acht lassen. Beim Viertelfinale inDallas herrschten gefühlte 50 bis 60 Grad, eswar das heißeste Spiel, das ich je gemacht habe. Ich war 34, saß auf der Bank,und dachte, ich bekomme einen Kreislaufkollaps. Nur vom Sitzen. Und bei dieserAffenhitze hat einer in Richtung Effenberg gerufen: Lauf mal, du faule Sau.Dann hat der das mit dem Finger gemacht, was ja falsch war. Zuerst haben alledie folgende Sanktion bejubelt. Motto: Gottseidank wird der nach Hausegeschickt. Eine Woche später haben wir gegen Bulgarien verloren. Mit Effenbergwären wir vielleicht nicht ausgeschieden. Für mich stellt sich damit die Frage:wo liegt die Wahrheit? Und was ist angemessen?

Eine Frage der Toleranz...
Völler: Es gibt da nicht die Wahrheit, was in einem solchenFall richtig ist. Es ist eine Frage des Bauchgefühls, wie man mit so einerGeschichte umgeht. Was Effenberg gemacht hat, war nicht in Ordnung. WasGroßkreutz gemacht hat, auch nicht.

Thema Hitze: In Brasilien müssen die Nationalspieler mitähnlichen Verhältnissen leben wie Sie damals in den USA ...
Völler (unterbricht): Das stimmt nicht. Es ist Winter inBrasilien. Da ist es um die 22 bis 25 Grad. Warmum die Mittagszeit ja, aber die Hitze bei den Turnieren 1986 und 1994 in Mexikound den USA, die war dagegen unerträglich.

Also wird das Thema dramatisiert, den Spielort Manausausgenommen...
Völler: Ja. In Manaus herrscht extrem hohe Luftfeuchtigkeit,was das Fußballspielen zur Qual macht. Aber in Rio und Sao Paulo ist es zwarwarm, doch angenehm. Falls 2022 die WM in Katar stattfindet, dann hat Brasiliendagegen Kühlschranktemperaturen.

Was halten Sie von dem deutschen Quartier in derAbgeschiedenheit von Santo André. Ist der Lagerkoller dort programmiert?
Völler: Lagerkoller gibt es heutzutage nicht mehr.

Wann hat sich das geändert? Und warum?
Völler: Seit 1982 ist das schon anders. Es gab ja damalsschon Videos und Fernseher überall. Wie dagegen die Spieler 1974 in Malenteeingepfercht waren, wegen der Angst vor Terrorismus, das war wohl unerträglich,genauso 1978 in Argentinien. Damals gab es in den Trainingslagerwochennull Abwechslung.

Doch, Franz Lambert spielte auf der Hammond-Orgel.
Völler (lachend): Ja, der war froh, dass er dazu gehört hat.

Was muss passieren, damit Deutschland Weltmeister wird?
Völler: Ab dem Achtelfinale entscheiden Kleinigkeiten überSieg oder Niederlage. Und ab dem Halbfinale braucht man eben auch das gewisseQuäntchen Glück, das wir damals bei der WM 1990 auch hatten, als wir imElfmeter- Schießen gegen England ins Endspiel gekommen sind.

Hilft dem deutschen Team die leichtere Hälfte desTurnier-Tableaus?
Völler: Die Gruppengegner finde ich in der Tat nicht sowichtig. Zumindest Platz zwei sollten wir immer schaffen, auch wenn es einestarke Gruppe ist. Wichtig ist der weitere Weg.

Wie 2002 also, als die K.o.-Runden-Gegner alle vonüberschaubarer Klasse waren.
Völler: Genau. Wenn man unsere potenziellen Gegner imAchtel- und Viertelfinale sieht, ist es überschaubar. Die andere Hälfte istschwieriger.

Wie werden Sie die WM erleben? Fliegen Sie auch rüber?
Völler: Nein. Bei Bayer haben wir ja auch noch ein bisschenwas zu tun. Aber ich freue mich sehr auf unsere Elf, auch auf das Turniergenerell. Eine WM ist das Maß aller Dinge, weil du kannst bei Bayern München inzehn Jahren achtmal Deutscher Meister werden, aber das ist nach ein paar Wochenschon vorbei. Weltmeister aber bist du für immer.

Ihr Top-Favorit?
Völler: Den absoluten Top-Top-Top-Favoriten gibt es nicht.Brasilien hat den Heimvorteil, aber derzeit nicht die super Mannschaft. BeiSpanien dachte man, die haben sich jetzt kaputt gesiegt, die können sich selbstnicht mehr sehen da oben auf dem Podest. Aber ich habe das Gefühl, dass Spanienwieder eine sehr gute Rolle spielen wird.

Warum?
Völler: Die Spanier haben ihre letzten drei Titel gewonnen,ohne einen echten Mittelstürmer. Und jetzt haben sie einen. Der Costa istsensationell. Wenn er fit ist, dann ist das für Spanien ein Riesen-Pluspunkt.Brasilien hat eine super Innenverteidigung, der Rest ist o. k. Neymar reißtmich nicht so vom Hocker. Costa ist genau der Spieler, der den Brasilianernfehlt.

Dabei hat er neben dem spanischen sogar auch einenbrasilianischen Pass.
Völler (lächelnd): War wohl große Überzeugungsarbeit, einenBrasilianer zu bewegen, dass er für Spanien spielt. Ich war nie ein Freunddavon, Spieler sozusagen einzubürgern.

Aber Paulo Rink hat doch auch unter Ihnen im deutschen Teamgespielt.
Völler: Das war ein anderer Fall. Er wollte unbedingt fürDeutschland spielen. Das Gegenbeispiel: Ailton. Einer, der für Deutschlandspielen will, weil er von den Brasilianern nicht eingeladen wird, hatte bei mirkeine Chance. Ansonsten verlieren Nationalmannschaften ihren Sinn, das wäredann ja genauso wie im Verein. Costa hätte für beide spielen können. Und er hatgesagt: Nein, ich fühle mich mehr als Spanier.

Ganz weit vorausgeschaut: Wird die WM in Katarstattfinden?
Völler: Kann ich nicht beurteilen. Wenn überhaupt, dann nurim Winter. Du kannst da nicht im Sommer Fußball spielen.

Zur Person

Rudi Völler (50) ist so etwas wie der neuzeitliche Uwe Seeler - volksnah und überall beliebt. Der heutige Sportdirektor von Bayer Leverkusen erzielte in 90 Länderspielen 47 Tore und spielte im Verein unter anderem bei Werder Bremen und AS Rom. In Leverkusen beendete er 1996 seine Karriere. Als Teamchef der Nationalelf (2000 - 2004) wurde er 2002 Vize-Weltmeister und trat nach dem Vorrunden-Aus bei der EM 2004 zurück.

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