Wissenschaft - Den Propheten doch am Barte gezupft

Carl Gustav Jung bricht mit Sigmund Freud

Er war der Kronprinz - zumindest wurde er so immer wieder betitelt, doch die Regentschaft trat er nie an. Carl Gustav Jung schlug eine andere Richtung ein als Sigmund Freud, mit dem er seit 1907 in engem Kontakt gestanden hatte. In einem Brief, geschrieben an einem kalten Dezembertag im Jahre 1912, machte Jung die Trennung deutlich. Der damals 37-jährige Schweizer Psychiater warf dem 19 Jahre älteren Begründer der Psychoanalyse vor, seine Schüler wie Patienten zu behandeln und sie damit herabzusetzen. "Vor absoluter Untertänigkeit kommt keiner dazu, den Propheten am Barte zu zupfen."

Es ging nicht nur um den rechten Umgang miteinander, vielmehr konnte Jung Freuds Auffassung vom sexuellen Ursprung der Neurosen nicht teilen. Mit der Veröffentlichung des Werkes "Über die Psychologie des Unbewussten" (1912) erklärte Jung 1916 endgültig seine Unabhängigkeit von Freuds begrenzter sexueller Interpretation der Libido. Er gab seinen Vorsitz der Gesellschaft für Psychoanalyse auf und begründete eine eigene Richtung der Tiefenpsychologie, die er analytische Psychologie nannte.

Jung hatte in den ersten Jahren des Jahrhunderts über die Assoziation von Wörtern gearbeitet. Untersuchungen von Reaktionen eines Patienten auf Reizwörter offenbarten, was Jung als Komplexe bezeichnete. Diese Studien am Anfang des Jahrhunderts hatten zu einer engen Zusammenarbeit mit Freud geführt. Sigmund Freud legte in seinem wohl bedeutendsten Werk "Traumdeutung" im Jahre 1900 alle grundlegenden Konzepte dar, auf denen Lehre und Praxis der Psychoanalyse aufbauten. Darin analysierte der Wiener Nervenarzt vor allem seine eigenen Träume. Den Ausdruck "Psychoanalyse" hatte Freud bereits 1896 benutzt.

Die Psychoanalyse zielt auf die Erforschung und Aufdeckung unbewusster psychischer Prozesse. Dies geschieht mit Hilfe des spontanen Gedankenflusses des Patienten, der freien Assoziation, und Psychoanalytischen Deutungen. Ab auf die Couch - in der Psychotherapie liegt der Analysand, während Freud hinter dem Kopfende sitzt und ihm zuhört. Der Patient soll seine verdrängten neurotischen Konflikte auf die Person des Analytikers übertragen und sich dadurch von ihnen befreien.

Die Deutung von Träumen führte Freud zu seinen Theorien der kindlichen Sexualität und des so genannten Ödipuskomplexes, der erotischen Bindung des Kindes an den gegengeschlechtlichen Elternteil und den damit einhergehenden feindseligen Gefühlen gegenüber dem anderen Elternteil. Diese Auffassungen sowie wie die gesamte Theorie Freuds zum Sexual- und Aggressionstrieb waren immer sehr umstritten.

Zwar scharte der von der herrschenden medizinischen Lehre Angefeindete 1906 eine kleine Gruppe von Schülern und Anhängern um sich, doch Kontroversen spalteten schließlich den Kreis: Sein Landsmann Alfred Adler (1870-1937), der 1902 als einer der ersten zur "Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft" von Freud gestoßen war, verließ die Runde bereits im Frühsommer 1911. Der Psychologe und Psychiater legte in seiner Analyse der individuellen Entwicklung den Schwerpunkt eben nicht auf sexuelle Triebe. Sie seien nicht der ursächliche Motor für die Entstehung von Neurosen. Vielmehr konzentriert der Begründer der "Individualpsychologie" seinen Ansatz auf ein Gefühl der Unterlegenheit, das seiner Meinung nach die treibende Kraft des Menschen darstellt. Das Minderwertigkeitsgefühl entsteht in der frühen Kindheit. Der Mensch versuche diese Gefühle zu kompensieren oder zu überkompensieren, was in übertriebenes Streben nach unrealistischen Zielen, Macht und Überlegenheit ausarten kann. Adler glaubte, dass eine Analyse ein gesundes und vernünftiges Gemeinschaftsverhalten fördert.

Auch der abtrünnige Carl Gustav Jung lehnte Freunds Sexualtheorie als allgemeine Grundlage der Neurosenlehre und Kulturtheorie ab, beziehungsweise erweiterte er den Libidobegriff. Er bedeutete für ihn nicht nur sexuelle Triebe, sondern die Gesamtheit aller kreativen Instinkte und Impulse sowie die gesamte Motivationskraft eines Menschen.

1921 veröffentlichte Jung die Arbeit "Psychologische Typen". Er stellt darin die heute allgemein bekannten Persönlichkeitstypen des nach außen gerichteten, extrovertierten Menschen und des nach innen gekehrten, introvertierten Menschen vor. Traum- und Mythenmotive führen ihn später zu der Ansicht, dass das Unbewusste aus zwei Teilen besteht: dem privaten Unbewussten, das die gesamten persönlichen Erfahrungen des einzelnen enthält, sowie dem kollektiven Unbewussten, dem Sammelbecken sämtlicher Erfahrungen der Menschheit. Es ist charakterisiert durch Urbilder oder Archetypen. Jungs therapeutischer Ansatz zielt auf eine Wiedervereinigung der verschiedenen Persönlichkeitszustände.

Als Reaktion auf die Abspaltungen und Krisen gründete sich 1912 das "Komitee", der innere Kreis der Anhänger Sigmund Freuds.

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