Lulo Reinhardt aus Koblenz Newo Ziro. Neue Zeit

KOBLENZ · Lulo Reinhardt aus Koblenz ist ein begnadeter Gitarrist - und er ist Sinto. Sein Stück "The Fighter" ist ein Nachruf auf seinen Vater Bawo, der das "Zigeunerlager" von Auschwitz überlebte und ihn das Leben lehrte.

 Auf Achse: Rund fünf Monate des Jahres ist Lulo Reinhardt unterwegs - allerdings mit dem Flugzeug statt mit dem Wohnwagengespann.

Auf Achse: Rund fünf Monate des Jahres ist Lulo Reinhardt unterwegs - allerdings mit dem Flugzeug statt mit dem Wohnwagengespann.

Eine Familiengeschichte. Die Geschichte einer Koblenzer Familie. Wo soll man anfangen? Vielleicht vor 1000 Jahren. Als Lulo Reinhardts Vorfahren den Norden Indiens verließen und westwärts zogen. Gaukler, Artisten, Tänzer, Musiker. Parias. Unberührbare. Nach 400-jähriger Odyssee durch Persien, Armenien, Südosteuropa wird Lulos Volk zum ersten Mal in einem deutschsprachigen Dokument erwähnt, 1407, in Hildesheim. Ihr exotisches Aussehen schützt sie für eine Weile, weil man sie für Nachfahren versprengter Pilger und Kreuzfahrer aus dem Morgenland hält. Aus Ägypten. Gypsies werden sie deshalb im Angelsächsischen genannt, Gitanos in Spanien, Ciganos in Portugal, Zigeuner hierzulande. Manchmal spricht Lulo Reinhardt von den Zigeunern und den Deutschen. Der Einfachheit halber. Um verstanden zu werden. "Wir selbst würden uns niemals Zigeuner nennen. Wir sind Sinti. Aus dem Tal des Flusses Sindh."

Der 54-jährige Sinto Lulo Reinhardt ist in den vergangenen Jahrzehnten um die halbe Welt gereist, um seine Musik zu vervollkommnen. "Desert Inspiration" heißt eines dieser vollkommenen Stücke, das nach einer Reise zu den Berbern in den tiefen Süden Marokkos entstand. Fünfeinhalb Minuten nichts als Reinhardts akustische Gitarre, Reinhardts Hände, Reinhardts Seele. Die Stille der Wüste wird hörbar. Die flirrende Hitze. Hauchzarte Flageolett-Töne malen ein Meer von Sternen an den Nachthimmel über dem Atlasgebirge.

Der Schutz durch die Fürsten währte nicht lange. Bald machte man die Migranten für Missernten und Pest verantwortlich, nannte sie Handlanger des Satans. 1496 wurden sie per Gesetz für vogelfrei erklärt. Frei wie ein Vogel, bar jeder Rechte. Wie die Juden waren die Sinti über Jahrhunderte die Projektionsfläche für Missgunst und Hass, Schuldzuweisungen und Denunziationen. Man verbot ihnen, Land zu besitzen und zu bebauen, man verbot ihnen, den Handwerkszünften beizutreten. Bis im Nationalsozialismus die Ausgrenzung in die Ausrottung mündete.

Manche Historiker schreiben, die Herkunft der Sinti aus dem Tal des indischen Flusses Sindh (Indus) sei wissenschaftlich nicht belegbar. Den Sinti ist schnuppe, was deutsche Historiker für belegbar halten. Für eine schriftlose Kultur zählt die mündliche Überlieferung von Generation zu Generation. Und so erzählt Lulo seinen Enkelkindern vom Tal des Sindh, von der langen Reise seines Volkes, vom heiligen Berg Ararat in Armenien, der in der Mythologie der Sinti eine wichtige Rolle spielt, und er lehrt seine Enkel Romanes, die Sprache seines Volkes, die mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt ist und die ihn seine Großmutter lehrte, als er klein war. Auf den rechten Daumennagel hat er die Flagge seines Volkes lackiert: Im Zentrum steht das Rad (indisch Chakra) wie auf der Flagge Indiens. Bei Konzerten wird der Gitarrist schon mal gefragt, ob dieser Daumen für seine spezielle Spieltechnik ausschlaggebend sei. "Das ist schön: So komme ich über meine Musik mit den Leuten ins Gespräch über meine Familie."

Einige hundert Reinhardts in Koblenz

Eine große Familie. Lulo hat acht Geschwister, mehr als 40 Nichten und Neffen, vier Enkel; die Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen hat er nie gezählt. Einige hundert Reinhardts leben in Koblenz. Bei Familienfesten ist die Suche nach einem geeigneten Ort die erste Aufgabe. Eine Hochzeit kann schon mal drei Tage dauern. Die Familie bietet den Sinti seit Jahrhunderten den Schutz, den die Gesellschaft nie bot.

Lulo, ein Großneffe des legendären Jazzgitarristen Django Reinhardt, war fünf, als ihm sein Vater Bawo Reinhardt das Spiel auf der Gitarre beibrachte - und alles andere, was man fürs Leben braucht. Das Restaurieren von Antiquitäten zum Beispiel. Lulos Onkel Daweli war Mitbegründer des Schnuckenack Reinhardt Quintetts, Cousin Mike galt früh als musikalisches Wunderkind, trat als Zehnjähriger im ZDF mit Max Gregers Bigband auf und riss das Publikum zu Jubelstürmen hin. Flotte Zigeunermusik war wieder gefragt. Schnuckenack hatte sie von der Straße in die Konzertsäle geholt. Gypsie-Swing. Kleine Fluchten aus dem Ghetto.

Schon als Kind stieg Lulo als Rhythmusgitarrist in das Mike Reinhardt Sextett seines fünf Jahre älteren Cousins ein - und ein Vierteljahrhundert später wieder aus. "Ich wollte nicht mehr ständig verglichen werden: Du spielst wie dein Vater. Du spielst wie dein Cousin. Ich wollte auch nicht mehr wie Django spielen. Nur Django konnte wie Django spielen. Aber wer bin ich? Ich wollte nicht mehr Klischees bedienen."

Newo Ziro, sagen die Sinti. Neue Zeit. "Nichts ist schlimmer als Stillstand", sagt Lulo. Er komponierte, arrangierte, ließ sich auf langen Reisen von Musikern in Spanien, Nordafrika, Australien inspirieren, arbeitete mit Jazz-Größen in aller Welt. Sein Bassist stammt aus San Francisco, sein Violinist ist Jude. Heute spielt Lulo Reinhardt wie Lulo Reinhardt. Und er kann von seiner Musik leben. Durchschnittlich fünf Monate pro Jahr ist er auf Tournee, setzt das Nomadenleben seiner Vorfahren fort.

Ein Sinto bettelt nicht

42 Gitarren hängen an den Wänden seiner Wohnung in Lahnstein bei Koblenz. "Ich will sie jederzeit griffbereit um mich haben. Ich will sie nicht in Gitarrenkoffern beerdigen." Inzwischen werden Gitarren nach seinen Entwürfen gebaut, mit 14 Bünden statt der üblichen zwölf. Er kann keine Noten lesen. "Keiner der Reinhardts kann Noten lesen. Aber wir haben alle ein gutes Gehör. Musik ist wie Mathematik. Wir sind alle gut in Kopfrechnen." Und wenn es hart auf hart käme, wenn ihn die Musik nicht mehr ernährte, würde er jederzeit seinen Schrank öffnen, die alte Scherenschleifmaschine hervorholen und losziehen. "Das ist eine faszinierende Arbeit. Mein Onkel fährt immer noch durch den Westerwald und schleift Messer und Scheren." Ein Sinto bettelt nicht. Auch nicht beim Staat. "Als ich noch nicht von der Musik leben konnte, hatte ich mein eigenes Künstlerförderungsprogramm: als Anstreicher, Kneipier, Kurierfahrer."

Lulos Großvater hatte einen Zirkus. Natürlich mit eigener Musikkapelle. Zirkus Reinhardt. Im Ersten Weltkrieg war er Frontsoldat. Im Zweiten Weltkrieg Oberfeldwebel auf der Festung Ehrenbreitstein. Als er am Abend des 10. März 1943 von dort ins Ghetto hinabstieg, war seine Familie weg. Seine Frau, seine Kinder, alle deportiert ins KZ. Lulos Onkel war Soldat bei Rommels Nordafrika-Feldzug, als er 1942 von der Front weg ins KZ Dachau deportiert wurde. Die Ziffern der Häftlingsnummer auf dem Unterarm von Lulos Vater Bawo stachen später bizarr groß hervor, weil sie in die Babyhaut gestanzt worden waren, als das Kind 18 Monate alt war. Bawo hat das "Zigeunerlager" von Auschwitz überlebt. Etwa die Hälfte der Koblenzer Familie Reinhardt wurde ermordet.

Lulos Großmutter kam seither kein deutsches Wort mehr über die Lippen. Auch Onkel Nonno, der Geigenrestaurator, traute den Deutschen nicht mehr, den "Gadsche", wie die Sinti sie nennen. Lulos Großvater versuchte nach 1945 den Zirkus zu reaktivieren ("Reinhardts Reise-Varieté verspricht Frohsinn und Stimmung"). 1954 starb er an den Spätfolgen der KZ-Haft. Als Jugendlicher fragte Lulo seinen Vater: "Warum nur seid ihr hierher zurückgekehrt? Warum seid ihr nicht in ein anderes Land gezogen?" Bawo antwortete: "Wo sollten wir hin? Wir leben doch seit 600 Jahren hier. Das ist unser Land." Und Bawos Bruder Daweli, der als Zwölfjähriger den Todesmarsch überlebte, sagte: "Wenn wir hassen, verlieren wir. Wenn wir lieben, werden wir reich."

Cowboy-und-Indianer-Spiel mit echten Pferden

1945 verschwand auch in Koblenz zwar das NS-Regime, aber noch nicht das rassistische, menschenverachtende Gedankengut. Die KZ-Überlebenden wurden in die feuchten, kalten Katakomben der verfallenen preußischen Festung Franz gepfercht. In den 50er-Jahren zogen die Reinhardts an die Peripherie der Stadt und schlugen auf einem ungenutzten Stück Wildnis zwischen Rhein und B9 ihr Lager auf. Bis in die 70er-Jahre lebten sie dort. Als neue Wohnung für seine junge Familie schweißte Bawo zwei Zirkuswagen zusammen. "Das war das Paradies für uns Kinder", erinnert sich Lulo. "Wir spielten Cowboy und Indianer mit unseren acht Pferden, wir ritten ohne Sattel, kilometerweit, wir bauten Baumhäuser, wir kletterten in dem Strommast herum, der mitten im Lager stand."

Bis die Stadt entschied, das "Zigeunerlager" aufzulösen und die Bewohner auf die Mietskasernen dreier weit auseinanderliegender Randgebiete zu verteilen. Bawo, seine Frau und seine Kinder wohnten nun in Asterstein, und Lulo musste fortan fünf Kilometer laufen, wollte er seinen Cousin Mike sehen. "Angeblich war die Umsiedlung nötig, weil der Güterbahnhof erweitert würde", erinnert sich Lulo. "Aber der ist bis heute nicht erweitert worden."

Je älter Lulos Vater Bawo wurde, desto mehr litt er unter den Folgen der ersten Lebensjahre im KZ, konnte sich nicht mehr in engen Räumen aufhalten, erschrak beim Klingeln des Telefons, durchlitt Panikattacken, musste Medikamente nehmen. Seine Therapeutin erklärte ihm, dass sich das Erlebte in sein Unbewusstes eingebrannt hatte, auch wenn er sich bewusst gar nicht erinnerte, weil er damals noch so klein war.

Bawo machte es sich zur Lebensaufgabe, Brücken zu bauen zwischen den Sinti und den Gadsche, Verständnis und Verständigung zu fördern. "Wir leben hier nicht im Ghetto. Ein richtiges Ghetto wäre ja mit Stacheldraht eingezäunt." Aber manchmal, wenn er ins Grübeln kam, sagte er: "Der Zigeuner hat nie einen Krieg geführt. Warum nur werden wir so negativ gesehen?" Bawo gründete einen gemeinnützigen Verein namens "I Schugga Diwes - Ein schöner Tag". Der hilft bei Behördengängen und anderen Problemen, bringt Analphabeten das Lesen und Schreiben bei, fördert Begegnungen. Sogar ein Fußballverein entstand: "S.V. Reinhardt's Elf Asterstein". Unermüdlich predigte Bawo den jungen Sinti, die Schule zu besuchen - auch wenn manche sagten: "Wozu Schule? Wenn ich Reinhardt heiße, kriege ich sowieso keinen Job." Bawo war aber auch wichtig, dass die jungen Leute ihre Herkunft nicht verleugnen, sondern stolz sind auf ihre Kultur. Er lehrte sie Romanes. "Wenn unsere Sprache stirbt, stirbt auch unsere Kultur."

Am 5. Februar 2013 starb Bawo Reinhardt. Drei Tage später war die Beerdigung. Wenn ein Sinto oder eine Sinteza stirbt, versammelt sich die Verwandtschaft mit Gitarren und Geigen am Grab. Lulo aber bestand darauf: "Das erste Stück spiele ich alleine. Kein Gypsie-Swing." Er hatte The Fighter eigens für seinen toten Vater komponiert. "Während ich spielte, spürte ich, wie die Kraft meines Vaters auf mich überging." Zwei Wochen später ging er ins Tonstudio im Bad Godesberger Hansa-Haus und nahm eine neue CD auf. Titel: Bawo!

Newo Ziro. Lulo ist nun Familienoberhaupt und Vorsitzender von "I Schugga Diwes". Lulos Schwester Otta hat die Bibel ins Romanes übersetzt. Lulos 21-jährige Nichte Sibel schaffte es als einzige ihrer Grundschulklasse ins Gymnasium. Sie bestand das Abi mit Eins, besitzt zwei schwarze Gürtel in Kung Fu, und studiert jetzt in Köln. Onkel Lulo war stets ihr Vorbild: "Weil der sein eigenes Ding macht." Und Lulo zieht weiter, noch diesen Monat. USA-Tournee. Die Scherenschleifmaschine kann warten.

>>> Weitere Informationen von und über Lulo Reinhardt finden Sie auf seiner Homepage

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