Germaine Krull Die Welt ist aus den Fugen

BERLIN · Man sieht sie nie ohne. Kamera und Zigarette scheinen bei Germaine Krull so fest miteinander verbunden, dass sie sogar für ihr "Selbstporträt mit Icarette" um 1928 beides in die Hand nimmt. Ein Statement ist das, für den selbstbestimmten Aufbruch der neuen Frau mit Kurzhaar-Bob. Obwohl die Fotografin es gar nicht nötig hat: Ihre Aufnahmen, die extremen Winkel, stürzenden Perspektiven und Doppelbelichtungen dokumentieren diesen Bruch mit allen Traditionen zur Genüge.

 Germaine Krulls Aufnahme "Alte Architektur: Druck der Uhrzeit", 1928. Silbergelatineabzug.

Germaine Krulls Aufnahme "Alte Architektur: Druck der Uhrzeit", 1928. Silbergelatineabzug.

Foto: ESTATE GERMAINE KRULL, MUSEUM FOLKWANG, ESSEN

Der Berliner Martin-Gropius-Bau feiert aktuell die Wiederentdeckung einer Pionierin. Zusammen mit dem Jeu de Paume in Paris rückt das Haus ihre Reportagefotos in das Zentrum einer Retrospektive mit 130 Originalabzügen sowie Abbildungen aus Illustrierten. Krull, 1897 im damaligen Posen geboren, eröffnet als 20-Jährige ein Fotoatelier in München, geht nach ihrer Ausweisung über Moskau und Berlin nach Paris, verliebt sich in Elsa, heiratet dann aber den Dokumentarfilmer Joris Ivens, bevor sie weiter nach Brasilien und Indochina zieht.

Ein Leben im Modus der Rastlosigkeit, der schon die Eltern erfasste. Die fotografischen Ansichten der Tochter liefern eine Antwort für die vielen Gründe: In ihren Sujets ist die Welt aus den Fugen. Die bürgerliche sowieso. Aber auch die Metropolen mit ihrem schnellen Takt und der kühn wachsenden Stahlarchitektur bieten den Bewohnern keinen Halt mehr.

Germaine entdeckt den Tanz und den Akt als Motiv. Die Werbefotografie wird ihr temporärer Beruf, der ihr 1929 unter anderem einen perlgrauen Peugeot beschert - obwohl sie da überhaupt noch keinen Führerschein besitzt.

Später wendet sie sich der Kriegsreportage zu und nutzt das Bild als Medium. Krull argumentiert nicht ideologisch. Ihre überaus ästhetisch komponierten Sujets bieten Spielräume zur Argumentation, indem sie oft zwei oder mehr Facetten eines Sujets zeigen. Paris zum Beispiel erzählt seine Geschichte über den Eiffelturm in Krulls Fotobuch "Métal", das sie 1928 quasi über Nacht bekannt macht und ihr zahlreiche Aufträge einbringt.

Die dunkle Seite dieser in die Moderne strebenden Stadt wird in der Reportage von Pariser Clochards sichtbar. Das Verwaschene, Unpräzise dieser anonymen Porträts wiederholt sich in Krulls Ansichten industrieller Bauten, deren konstruktive Prinzipien die Fotografin weit weniger interessieren als jene diffuse Atmosphäre, die ihre Motive vieldeutig machen. Darum verblüfft, dass Germaine Krull stets klar der Avantgarde des "Neuen Sehens" zugeordnet wird. Mindestens so stark ist sie jedoch von der Ästhetik der Piktorialisten beeinflusst, die als starke Fraktion der Fotografiegeschichte bis in die zwanziger Jahre die Realität symbolkräftig aufzuladen suchten.

Anders gesagt: Krull hatte keine klare Haltung. Man mag sie ihr ausgetrieben haben, als sie in München wie in Moskau für ihre politische Linie inhaftiert wurde. Später lässt sich die Fotografin jedenfalls nicht mehr vereinnahmen, sondern kompiliert, was sie braucht. Auch, um als angewandte Fotografin auf dem Markt erfolgreich zu sein. Nach 1931 lassen die Aufträge wohl als Folge der Wirtschaftskrise nach, von 1947 bis 1966 leitet Krull ein Hotel in Bangkok. Später wandert sie aus Solidarität mit Exil-Tibetern nach Indien aus und kehrt erst kurz vor ihrem Tod 1985 zur Schwester nach Wetzlar zurück.

Germaine Krull stirbt nahezu vergessen, ihr frühes Archiv ist überwiegend verschollen. Den Rest, vor allem spätere Aufnahmen aus Thailand oder Tibet, betreut das Folkwang Museum in Essen als Nachlass.

Das macht es schwierig, ihre Position vollständig zu beleuchten. Es bleiben Zitate von Zeitgenossen wie Jean Cocteau oder Walter Benjamin, die sie lobend erwähnen. Und progressive Magazine wie "Vu", die ihre Arbeiten gern reproduzierten. "Der echte Fotograf ist der Zeuge aller Tage, der Reporter", schrieb Germaine Krull in einem programmatischen Text. Eine These, an der die Ausstellung keinen Zweifel lässt.

"Germaine Krull - Fotografien", Martin-Gropius-Bau Berlin, Niederkirchnerstraße 7. Bis 31. Januar 2016, Katalog: 25 Euro.

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