Sommerreise mit dem SPD-Chef Sigmar Gabriel auf Kanzlerkurs

Goslar · Vor der Bundestagswahl 2017 zeigt der SPD-Bundesvorsitzende, dass er Lust hat auf eine Kanzlerkandidatur gegen Angela Merkel. Die Landtagswahlen in diesem Jahr könnten entscheidend sein für seine politische Zukunft.

Zu Hause ist es doch am schönsten. Sigmar Gabriel ist jetzt den dritten Tag unterwegs. Aber nun bewegt sich der SPD-Vorsitzende auf Sommertour auf sehr vertrautem Terrain. Goslar, seine Heimatstadt. Hier kennt er jeden Pflasterstein. Hier hat er schon Krawall gegen Franz Josef Strauß organisiert, als der 1980 als Kanzlerkandidat der Unionsparteien in der Stadt war, wie er damals überhaupt „außer Ärger in Veranstaltungen nichts gemacht“ habe.

Ein Raufbold, das schwingt in Gabriels Retrospektive über sich selbst mit, war er irgendwie schon immer. Das gehört zu seinem Naturell. In Goslar wird er jedenfalls anders als in Berlin nicht an jeder zweiten Straßenecke infrage gestellt. Kann er Kanzlerkandidat? Will er Kanzlerkandidat? Wird er Kanzlerkandidat?

Natürlich sei das hier Provinz, aber gute Provinz – voller Geschichte und Geschichten. Auch Gabriels Geschichte(n). Hier ist der SPD-Vorsitzende nah bei den Menschen und etwas weiter weg von den Problemen, auch von seinen eigenen, wenn er nur an die von ihm erteilte Ministererlaubnis zur Übernahme von Kaiser’s/Tengelmann durch den Konkurrenten Edeka denkt.

Am Morgen noch war der Bundeswirtschaftsminister in Berlin und leitete dort als Vizekanzler in Abwesenheit der urlaubenden Bundeskanzlerin Angela Merkel das Kabinett. Aber jetzt, einige Stunden weiter, absolviert Gabriel sein Heimspiel: Goslar, wohin er auch während der Woche so oft wie möglich zu Frau und Tochter fährt, um wenigstens am nächsten Morgen eine halbe Stunde gemeinsam zu frühstücken, bevor er wieder mit dem Zug zum Regieren nach Berlin fährt.

In diesem August sind es noch 13 Monate bis zur nächsten Bundestagswahl. Und Gabriel präsentiert sich als Mensch, Nachbar, Familienvater, sturmerprobter Niedersachse. Seine SPD mit Umfragewerten von 20, 21, 22, 23 Prozent muss irgendwie aus dem Knick kommen. Nur wie? Einen personalisierten Wahlkampf gegen Angela Merkel wird die SPD vermutlich nicht führen, weil die CDU-Chefin zu lange zu beliebt war, auch wenn diese Beliebtheit mittlerweile bröckelt.

Goslar, 50 000 Einwohner, die Altstadt und die Kaiserpfalz Weltkulturerbe. Der Journalistentross ist ausgewechselt. Der nächste Beobachtertrupp aus Berlin wird dem SPD-Chef zugeführt. Teil eins der Sommerreise mit Stationen in Mecklenburg-Vorpommern, wo am 4. September ein neuer Landtag gewählt wird, liegt hinter Gabriel. Wobei der SPD-Chef weiß: Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und zwei Wochen später die Wahl zum Abgeordnetenhaus am 18. September in Berlin können auch Wahlen über seine politische Zukunft werden. Verliert die SPD in Mecklenburg-Vorpommern, wo Erwin Sellering seit 2008 Ministerpräsident ist, und startet Michael Müller bei seiner ersten Wahl als Regierender Bürgermeister in Berlin nicht durch, könnte es auch für Gabriel komplizierter werden.

Spitzenpolitiker und erst recht solche, die Kanzlerkandidat werden wollen, werden an Wahlergebnissen in den Ländern gemessen. Und auch daran, wie sehr die Partei hinter ihnen steht, was Gabriel nur einen Tag nach der Abgeordnetenhaus-Wahl in Berlin erleben kann. Dann, am 19. September, will die SPD bei einem Parteikonvent ihre Haltung zum europäisch-kanadischen Freihandelsabkommen Ceta festlegen.

Gabriel hat dafür gekämpft und muss als Wirtschaftsminister auch dafür geradestehen, dass Ceta umgesetzt wird. Doch viele seiner Genossen stehen unverändert skeptisch zu diesem Ceta-Abkommen.

Aber jetzt erst einmal ein Gang durch Goslar, wo Gabriel „unter ein bisschen schwierigen Bedingungen“ mit einer alleinerziehenden Mutter und einer Schwester in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. An diesem Abend stellt sich heraus, dass er außer Aufstand und Protest in Jugendtagen später noch etwas gelernt hat: Pädagoge in der Erwachsenenbildung mit einem bis heute lediglich ruhenden Arbeitsvertrag mit dem Bildungswerk der niedersächsischen Volkshochschulen. Und einer der Journalisten ruft ihm prompt zu: „Vielleicht brauchen Sie das nochmal.“

Nun gut, noch ist Gabriel nicht Kanzlerkandidat, aber er lässt in diesen Sommertagen gut gelaunt doch erkennen, dass er Lust darauf hätte und diese Kandidatur auch will. Im September kommenden Jahres wäre er 58 Jahre alt, dann würde er die SPD seit dem bitteren Absturz auf 23,0 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 bereits acht Jahre führen. Eine eigene Kanzlerkandidatur gehörte für einen Vorsitzenden der SPD dann schon mit einiger Logik zur Biografie.

An Gabriel führt kein Weg vorbei, wo er noch vor Wochen selbst die Idee verbreitet hatte, dass auch die Mitglieder der SPD über einen Kanzlerkandidaten entscheiden könnten, wenn sich denn mehr als einer fände, der es machen wolle: Herausforderer von Bundeskanzlerin Merkel. Fast klang es wie ein Aufruf: Bitte, liebe Genossen, bewerbt euch!

Aber in diesen Tagen hat selbst der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) Gabriel gewissermaßen zur Kandidatur aufgerufen. Jener Albig, der noch vor einem Jahr gesagt hat, für die SPD sei es einigermaßen aussichtslos, einen Kandidaten gegen Merkel aufzustellen, weil diese nun mal über die Maßen beliebt sei. „Ich glaube, sie macht das ganz ausgezeichnet – sie ist eine gute Kanzlerin.“

Aber Zeiten ändern sich und auch Albig hat seinen Kandidaten schon ausgemacht. „Eine Alternative zu ihm (Gabriel) kann ich nicht erkennen“, sagte er nun der Deutschen Presse-Agentur. „Jede Debatte über eine Alternative schadet der SPD.“ Keine Alternative also zu jenem Gabriel, den ein Parteitag im vergangenen Dezember bei der Wiederwahl zum Parteichef mit 74,3 Prozent abgestraft hat. Es hält sich die Geschichte, dass Gabriel damals in einer Trotzreaktion habe hinwerfen wollen. Aber dann hat er sich vor die Delegierten gestellt und gesagt, eine Dreiviertelmehrheit habe entschieden: „Und so machen wir das jetzt auch.“

Doch nun führt Gabriel durch den Saal der Kaiserpfalz in Goslar, von wo aus schon Friedrich Barbarossa und Wilhelm der Große als reisende Könige das erste und das zweite Deutsche Reich regierten, wie der Gastgeber erklärt. Ein Foto mit Kaisern und Königen auf historischen Wandgemälden im Hintergrund und ihm selbst davor, so etwas lehnt Gabriel selbstredend ab: „Ne, das mach‘ ich nicht, sonst denkt noch einer, ich gehöre dazu. Ich bin Republikaner.“

Vor allem aber ist er SPD-Vorsitzender und Bundeswirtschaftsminister im Fusionsrechtsstreit. Launig erzählt er vor einem der Wandgemälde von einem rund 300 Jahre währenden Rechtsstreit, der ohne Urteil endete, weil sich das Gericht dann aufgelöst hatte: „Ich vermute, dass ich bei Edeka/Tengelmann diese Chance nicht kriegen werde.“

Auch wenn Gabriel mit eingestreuten Anspielungen auf sein Edeka/Tengelmann-Problem deutsche Geschichte in Goslar erklärt, ist die aktuelle Innenpolitik nicht weit. „Gucken Sie mal da rüber“, sagt er und zeigt an der Reiterstatue Wilhelm des Großen vorbei. Da drüben stehe seit geraumer Zeit eine Kaserne der Bundespolizei – leer. Bundeswehreinsatz im Inneren? „Im Kern lenkt die Debatte darüber davon ab, dass wir zu wenig Bundespolizei haben.“

Gabriel ist ein Instinktpolitiker. Er kann an guten Tagen einem Saal mit 500 Zuhörern erklären, warum es für einen Eisbär im Berliner Zoo gefährlich ist, wenn die Polarkappen schmelzen. Oder warum „in den schwierigsten Stadtteilen die schönsten Schulen stehen“ müssten, wie er gerade an der Berufsschule Peine vor Schülern erzählt. An schlechten Tagen muss man ihn vor sich selbst schützen. In Peine hat er einen guten Tag.

Als er aus dem Bus aussteigt, sieht er ein paar Schwarzafrikaner auf dem Schulhof stehen. Gabriel steuert zielgerichtet auf sie zu. Das kann er, Stimmung aufnehmen, Stimmung machen, Menschen auch gewinnen, wie gesagt, das funktioniert an seinen guten Tagen. Die jungen Schwarzafrikaner, aus Liberia und der Elfenbeinküste nach Deutschland geflohen, freuen sich. Nice guy, netter Mann, der von gerade eben. Wer das gewesen sei? Keine Ahnung. Der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Oh my God... Eine Radioreporterin sagt: „Sigmar Gabriel“ und hält den Afrikanern das Mikrofon vor die Nase. Alle rufen: „Sigmar Gabriel.“

Nächste Station. Der Bundeswirtschaftsminister stoppt bei der Salzgitter AG. Stahlproduktion. Sein Wahlkreis: Goslar, Wolfenbüttel, Salzgitter. Gabriel spricht von „geschlossenen Wertschöpfungsketten“ und „integrierter Stahlproduktion“.

Der Vorstandsvorsitzende Heinz Jörg Fuhrmann sagt, er wisse nicht, ob das jetzt angemessen sei, aber er erlaube sich mal einen Kommentar. Auch mit Blick auf die „teilweise irrationale Umwelt- und Energiepolitik in Berlin und auch in Brüssel“. Fuhrmann klagt über Billigstahl aus China, das den europäischen Markt überschwemme. Hier in Salzgitter versuche man mitzuhalten, mit Stahl, produziert zu sauberen Bedingungen. Aber all dies gebe es nicht umsonst. Gabriel stehe auch in diesem Abwehrkampf gegen die bösen Chinesen für „ein Stück gelebter Führung“, und er zeichne sich dadurch aus, „dass er nicht nur auf die nächste Umfrage schaut“.

Gabriel, auf Stahlwerk-Visite mit Schutzhelm, steht jetzt gewissermaßen im Maschinenraum, dort, „wo es brodelt, wo es manchmal riecht, und gelegentlich auch stinkt“, wie er 2009 bei seiner Rede an den Dresdner Parteitag seinen Genossen mitgegeben hat. Dorthin müsse die SPD zurück. Fuhrmann schimpft auf die EU-Sanktionen gegen Russland: „Konfrontation wird uns in Europa nichts nutzen. Und Russland gehört zu Europa.“

Als er Gabriel verabschiedet, ist der Salzgitter-Boss plötzlich ein Jahr weiter. September 2017, Bundestagswahl. „Beehren Sie uns bald wieder, durchaus auch als Wirtschaftsminister nach der nächsten Bundestagswahl.“ Geraune im Bus. Einer ruft: „Der Minister hat noch Pläne.“ Kanzlerkandidat? Fuhrmann lacht und murmelt dann ins Mikrofon, man könne ja auch mal die Vernunft walten lassen.

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