Kommentar Ein heikler Fall

Berlin · Ein Tabubruch steht an, auch wenn die Regierenden es so nicht nennen. Sie sprechen lieber von einem Ausnahmefall. Das klingt weicher.

Die Ausnahme: Die Bundesregierung wird deutsche Waffen aus Beständen der Bundeswehr in ein Kampfgebiet liefern, das sich immer mehr zum Kriegsgebiet entwickelt. Die kurdischen Peschmerga-Milizen im Nordirak sollen mit Waffen aus Nato- und EU-Staaten aufgerüstet und, wo nötig, auch ausgebildet werden, damit sie die Barbarei der pro-sunnitischen Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zumindest in ihrer Region stoppen.

Der Tabubruch: Seit Jahrzehnten ist eine Leitlinie deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, keine Waffen in Krisenregionen zu liefern. Über Jahre hatte vor allem ein Außenminister Guido Westerwelle (FDP) die Kultur der militärischen Zurückhaltung praktiziert und geprägt. Deutschland riskierte sogar eine heftig kritisierte Enthaltung im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über eine Flugverbotszone im Libyen-Krieg - an der Seite von Russland und China.

Doch jetzt will die Bundesregierung unter dem Eindruck brutalster Verbrechen bis hin zu Völkermord durch den "Islamischen Staat" nicht länger zusehen und nicht mehr allein auf die diplomatische Karte setzen. Deutschland mischt sich ein in einen Krieg, in den die Bundesregierung weiß Gott keine eigenen Truppen schicken wird, aber durch den sie doch eigene wie europäische Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Ein radikal-islamisches Kalifat an der Grenze zum Nato-Partner Türkei kann der Westen nicht zulassen, ebenso wenig einen nächsten sicheren Hafen für Terrorismus, nachdem die Nato gerade dabei ist, ihre Kampftruppen aus Afghanistan abzuziehen.

Am morgigen Sonntag wollen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dann gerade zurück vom EU-Sondergipfel aus Brüssel, und Vize-Kanzler Sigmar Gabriel (SPD) mit den zuständigen Ministern Frank-Walter Steinmeier (Auswärtiges), Ursula von der Leyen (Verteidigung), Wolfgang Schäuble (Finanzen) und Gerd Müller (Entwicklung) nochmals beraten, was die Bundeswehr den Kurden im Nordirak liefern kann. Die Bundesregierung verschenkt Waffen aus ihrem Bestand und nennt diesen Rüstungsexport dann "Länderabgabe".

Den Kurden kann die Sprachregelung egal sein, so lange sie aus Deutschland und Europa panzerbrechende Waffen bekommen, mit denen sie der hoch gerüsteten IS-Miliz auf Augenhöhe begegnen können.

Tatsächlich wird die Zahl der Krisen- und Kriegsgebiete nicht weniger. Deutschland kann sich dabei nicht wegducken, will es entsprechend seines Gewichtes in der Welt auch gehört werden. Verantwortung ist in diesem Fall nicht abstrakt, sondern konkret. Verteidigungsministerin von der Leyen bekommt dies - abseits aller Fotoposen - längst zu spüren.

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