Notfallseelsorger Albrecht Roebke Wenn das Unfassbare geschieht

RHEIN-SIEG-KREIS · Albrecht Roebke ist seit 2013 hauptamtlicher Koordinator der Notfallseelsorge in der Region Bonn/Rhein-Sieg. Er begleitet Menschen in Krisensituationen, fängt sie auf, wenn sie vom plötzlichen Tod eines Familienmitglieds erfahren, und hilft dabei das Unfassbare zu begreifen.

Die passenden Worte gibt es nicht. Wie auch, wenn ein Satz binnen weniger Sekunden das bisherige Leben verändert. Aber: „Es muss raus“, sagt Pfarrer Albrecht Roebke. Eine Todesnachricht muss überbracht werden. Klar und deutlich, ohne Schnörkel und schöne Verpackung. In der Regel spricht ein Polizist die gefürchteten Worte aus. Albrecht Roebke steht dann an seiner Seite und fängt die Hinterbliebenen auf, wenn die Worte ihr Bewusstsein erreichen. Roebke ist als hauptamtlicher Notfallseelsorger einer von fünf Koordinatoren der ökumenisch besetzten Notfallseelsorge Bonn/Rhein-Sieg. „Wir begleiten Menschen dabei, das Unfassbare zu begreifen“, beschreibt er den Kern seiner Arbeit.

Seit 2000 gibt es für den Rhein-Sieg-Kreis und Bonn eine Notfallseelsorge. Fast ebenso lang ist Albrecht Roebke Teil des Teams. Zunächst ehrenamtlich neben seiner Arbeit als Religionslehrer und Seelsorger am Hennefer Berufskolleg, seit 2013 im Hauptamt. Die Evangelischen Kirchenkreise an Rhein und Sieg, Bad Godesberg/Voreifel und Bonn finanzieren seine Dreiviertel-Stelle. „Die Arbeit war ehrenamtlich nicht mehr zu leisten“, sagt der 49-Jährige. Waren die Notfallseelsorger anfangs jährlich etwa 100 Mal im Einsatz, sind es inzwischen mehr als 300 Einsätze. Ein Zeichen der engen Zusammenarbeit zwischen Feuerwehr, Polizei und Notfallseelsorge.

Mehr als 300 Einsätze im Jahr

Das Telefon klingelt. Nein, kein Anruf der Leitstelle. Eine private Angelegenheit. Das Motorrad kann in Dottendorf stehen bleiben. Theoretisch könnte Roebkes Beistand jederzeit gefordert sein. Gleichwohl muss der 49-Jährige nicht rund um die Uhr bereit stehen. „Wir teilen uns das im Team auf“, sagt der Bonner. Neben den fünf Koordinatoren sind das 30 Freiwillige. Ob Suizid, Gewaltverbrechen, Unfall oder Spezialeinsatzkommando – Notfallseelsorger sind an vielen Stellen gefragt. Die Leitstelle alarmiert das Leitungsteam. „Wenn ich nicht abhebe, springt der Anruf weiter“, so Roebke. In jedem Fall hebt jemand ab, ein Notfallseelsorger rückt aus.

Albrecht Roebke trägt dann sein schwarzes Hemd mit weißem Kragen, darüber eine lilafarbene Rettungsjacke. „So ist sofort ersichtlich, wer ich bin“, sagt er. Dennoch geschieht es immer wieder, dass Hinterbliebene ihn erst einmal ausblenden. „Später wissen sie nicht mehr, dass ich von Anfang an dabei war“, berichtet der 49-Jährige. Aber er ist da, wenn sich die schlimmste Befürchtung bestätigt. Hilft ganz praktisch, erklärt, wie es weitergeht, wie die Gerichtsmedizin arbeitet oder der Bestatter.

„Normalerweise endet der Einsatz eines Notfallseelsorgers nach 24 Stunden“, sagt er. In der Region bieten er und seine Kollegen auch länger Beistand an. Der Mord an Hannah aus Oberdollendorf 2007 war so ein Fall. „Das war ein sehr belastender Einsatz, der alle Facetten der Notfallseelsorge von mir gefordert hat.“ Angefangen bei der Überbringung der Todesnachricht über den Einsatz in der Schule bis hin zur Gerichtsverhandlung. „So ein Fall endet nicht nach 24 Stunden“, sagt Roebke. Der Kontakt zu Hannahs Vater hält an, inzwischen verbindet sie eine Freundschaft. „Es gibt auch Einsätze, da meiden die Leute mich, wenn sie mir später begegnen.“

Das Begleiten ist wesentlicher Bestandteil

Jeder Seelsorger im Team hat Spezialgebiete. Für Albrecht Roebke sind das Kriseninterventionen in Schulen und Einsätze mit geistig Behinderten. „Mein Bruder war geistig behindert“, erklärt er. Von ihm habe er das Begleiten gelernt, den wesentlichen Bestandteil seiner Arbeit. „Er hat mir gezeigt, was es heißt, bedingungslos geliebt zu werden.“ Dass er Pfarrer werden möchte, hat Roebke schon mit zwölf Jahren gewusst, auch wenn er aus einem atheistischen Elternhaus kommt.

Das Telefon klingelt. Wieder nicht die Leitstelle. „Es gibt Einsätze, die man aus persönlichen Gründen nicht übernehmen kann“, erzählt der Mann, der in zweiter Ehe verheiratet ist. Wenn ein Detail zu nahe komme, sei es besser, sich zurückzuziehen. So ist es ihm ergangen, als er zur Reanimation einer Jugendlichen gerufen wurde. „Sie hat mich an meine Tochter erinnert, da war klar, ich kann nicht mit der Familie sprechen“, sagt der Vater zweier Kinder. „Man kann sich an schlimme Bilder und Situationen gewöhnen, nicht aber an persönliche Details“.

Tiefes Verständnis für den Beruf

Was es bedeutet, geliebte Menschen von einem Moment auf den anderen zu verlieren, hat Albrecht Roebke im Juni 2015 selbst erfahren müssen. Seine Eltern und sein Bruder starben nach einem Autounfall in Euskirchen. „Damals ist alles schiefgegangen“, erinnert er sich. Weder die Polizei noch ein Notfallseelsorger, sondern eine Nachbarin der Eltern hat ihm die Nachricht überbracht. Drei Tage nach dem Unfall. „So soll es nicht laufen“, sagt der Bonner. Seinen Beruf habe er anschließend hinterfragt und erkannt, dass er sehr gut weitermachen kann. „Ich habe dadurch ein sehr viel tieferes Verständnis für meinen Beruf erlangt.“ Ein Vermächtnis seiner Eltern habe ihm geholfen: „Sie haben mir beigebracht, den Tag zu nutzen, und vorgelebt, dass man aus einem traumatischen Erlebnis etwas Positives ziehen kann.“

Albrecht Roebke ist Pfarrer geworden, um Menschen zu begleiten, besonders in Extremsituationen. „Da gehört ein Minimum an Beistand dazu“, sagt er. Die Notfallseelsorge sei gut aufgestellt, er sieht aber weitere, neue Einsatzfelder: Schöffen in einem Mordprozess, Fahrer des Abschleppwagens, vor allem Angehörige von Tätern. „Der Mann, der in Lohmar seine sechsjährige Nichte getötet hat, hat selbst Kinder, auch die brauchen Beistand“, sagt Roebke. Er zieht seinen weißen Kragen und die lilafarbene Jacke an. Er muss los. Zu einer Familie, deren Leben sich grundlegend verändert hat.

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