Buch-Neuerscheinung Narrentanz über Abgründen

Bonn · „Tyll ist gekommen“, ruft jemand im Dorf, und sogleich sind sie alle gebannt: vom Mimen, Jongleur, Seiltänzer und Souffleur seines sprechenden Esels. Die zwölfjährige Martha würde der Gaukler gern mitnehmen, doch sie bleibt.

 Daniel Kehlmann war nie besser.

Daniel Kehlmann war nie besser.

Foto: Beowulf Sheehan

Wenig später kommt der Krieg, so grausam gründlich, dass es die Dorfbewohner danach nur noch als Wispern in den Bäumen gibt: „Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.“

Mit diesem Auftakt schlägt Daniel Kehlmann zwei Leitmotive seines grandiosen Romans „Tyll“ an: die Nähe der Vergangenheit und die Allgegenwart von Gewalt und Tod. Seinen der Überlieferung nach im Jahr 1300 geborenen Tyll Ulenspiegel nämlich versetzt er mitten in den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648).

Ein Gauklerroman ist diese Eulenspiegelei also nur sehr bedingt, obwohl Tylls Kindheit in aller Düsternis beschworen wird. Der Mutter Agneta stirbt die Frühgeburt im Wald, Vater Claus, eigentlich Müller, brütet lieber über Welträtseln und magischen Pentagrammen. Als er mit den Gelehrten Tesimond und Kircher darüber fachsimpelt, redet er sich um Kopf und Kragen, denn die beiden Jesuiten lassen ihn nach einem Hexereiprozess hängen.

Schon steht diese aus den Fugen geratene Welt vollplastisch vor uns: mit ihrer lebensgefährlichen Nähe von Wissensdurst, Aberglaube und Inquisitionsdogma, mit ihrer knochenzermalmenden Härte. Und der Narr, ohnehin kein harmloser Spaßmacher, sondern ein Menschenkenner mit hypnotischem Blick, tanzt über einem blutigen Abgrund. Dabei ist Tyll unterwegs mit Nele, seiner schwesterlichen Gefährtin, und beinahe beiläufig erzählt Kehlmann hier die traurig-schöne Geschichte einer ungelebten Liebe.

Dabei verstrickt der Autor („Die Vermessung der Welt“) seinen Helden ins historische Geschehen: Tyll wird Hofnarr im Den Haager Exil jenes Pfälzer Kurfürsten Friedrich, dessen Griff nach der böhmischen Königskrone ein Kriegsauslöser war. Diesem täppischen Schönling sind Reich und Gefolge so rasch zerschmolzen, dass man ihn als „Winterkönig“ verspottet. Seine Frau, die englische Königstochter Elisabeth, begreift die Welt besser und auch das große Sterben: „Hunderte Eimer Blut, das noch in diesen Männern floss, würde bald nicht mehr in ihnen sein, es würde verspritzen, verrinnen, schließlich versickern; was machte eigentlich die Erde mit all dem Blut ...“

Sie säuft es etwa in der Schlacht von Zusmarshausen, die Kehlmann genial beschwört: nicht mit detailsüchtiger Gewaltpornografie, sondern mit einer Andeutungsvirtuosität, die den Wahnsinn spürbar macht. War dieser 42-Jährige Schriftsteller je besser? Nein. Schon der Ton der Dialoge ist gegenüber heutigem Jargon nur so leicht verschoben, dass er historisch „richtig“ klingt und doch alles wundersam vergegenwärtigt.

Und dann die abgründig-präzisen Porträts. Allen voran Tyll, der quecksilbrig Unbegreifbare, der den Glauben an das Gute gleich zweimal im Wald verlor. Zuerst an der Seite der blutenden Mutter, dann später, als ihn die Marodeure missbrauchten. Und der bei allem Spott auf die Adeligen doch ihre Schmerzen spürt.

In der bildstärksten Szene begleitet Tyll den erbärmlichen Friedrich durch ein stinkendes Heerlager voller Leichen und Verwundeter zum Zelt des siegreichen Schwedenkönigs Gustav II. Adolf. Und dort, in der tiefsten Tiefe seiner Demütigung, rafft sich der Winterkönig zu einem Akt der Rebellion auf.

So triumphiert „Tyll“ an allen Fronten: als Blick in die Mahlwerke der Macht, als magische Amalgamierung von Mythos, Erfindung und historischem Schrecken, vor allem aber als Meisterstück eines Menschenschilderers.

Daniel Kehlmann: Tyll. Rowohlt, 474 S., 22,95 Euro. Der Autor liest auf der lit.Cologne Spezial am 13. Oktober, 19.30 Uhr, im WDR-Funkhaus.

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