Urteil in Köln "Vertrauensbeweis" auf der Talsperre war perfider Mordversuch

KÖLN · „Villa Kunterbunt“ hieß das Mobilheim auf dem Campingplatz am See. Doch dahinter führte ein „Diktator“ ein perfides System sexuellen Missbrauchs. Erst nach einem grausamen Mordversuch fiel es zusammen.

 Der Angeklagte im Talsperren-Prozess.

Der Angeklagte im Talsperren-Prozess.

Foto: dpa

Es muss eine albtraumhafte Szene gewesen sein in jener kalten, regnerischen Nacht zum 10. Dezember 2014, hoch über der Brucher Talsperre in Nordrhein-Westfalen: Ein junger Mann lehnt über dem 20 Meter tiefen Abgrund. Ein älterer Mann steht hinter dem Sicherheitsgeländer und hält ihn an den Händen. Aber dann lässt er los - und der damals 18-Jährige stürzt in die Tiefe.

Das Landgericht Köln verurteilte den heute 47 Jahre alten Mann, der in jener Nacht losließ, am Donnerstag zu der denkbar schwersten Strafe: lebenslange Haft bei besonderer Schwere der Schuld und Sicherungsverwahrung. Zweieinhalb Stunden lang schilderte die Vorsitzende Richterin Sabine Kretzschmar das „System“, das der Angeklagte zur sexuellen Ausbeutung von Jungen aufgebaut hatte.

Reichskriegsflagge über der "Villa Kunterbunt"

Von außen sah alles ganz idyllisch aus: „Villa Kunterbunt“ nannte er sein Mobilheim auf einem Campingplatz am See. Nur die Reichskriegsflagge, die darüber wehte, hätte stutzig machen können. Hinter der bunten Fassade missbrauchte und vergewaltigte der Mann acht Jahre lang mehrere Jungen. Seine Opfer kamen aus sozial schwachen, zerrütteten Familien, hatten Probleme in der Schule und ein geringes Selbstwertgefühl. Das nutzte der Mann aus.

Er machte ihnen Geschenke, angelte mit ihnen, spielte Fußball, half bei den Hausaufgaben und spendierte vor allem viel Alkohol. All das mit dem Ziel, sie wieder und wieder zu missbrauchen. Die Jungen wagten es nicht, aus dem System auszubrechen, weil sie den Mann zugleich bewunderten und fürchteten. „Er hat gesprochen wie ein Diktator“, sagte ein heute 25-Jähriger als Zeuge.

"Fast magische Kräfte"

Der Mann brüstete sich mit Kontakten zum Geheimdienst und prahlte damit, schon mal jemanden umgebracht zu haben. Wenn jemand gegen ihn aufbegehrte, wurde er gewalttätig. „Er kann sich höflich-charmant-zugewandt verhalten, andererseits mit extremer Härte vorgehen“, sagte die Richterin. „Der Angeklagte ist so sehr von sich überzeugt, dass er sich fast magische Kräfte zuschreibt.“ Im vergangenen Jahr schaffte es schließlich ausgerechnet sein Liebling, „Bärchen“ genannt, sich von ihm zu lösen und Anzeige zu erstatten.

Als der Mann davon erfuhr, kündigte er zwei anderen Jungen an, er werde „Bärchen“ aus dem Weg räumen. Es sollte wie Selbstmord aussehen. Eines Nachts wird der 18-Jährige wach - und obwohl er Wohnung und Schlafzimmertür abgeschlossen hat, steht neben ihm der gefürchtete Peiniger: schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, bewaffnet mit Messer und Axt. Er zwingt ihn, Abschiedsbriefe zu schreiben und alle Anschuldigungen zurückzunehmen.

"Es ist gemacht. Er ist tot"

Dann geht es zur Brucher Talsperre nahe Gummersbach im Oberbergischen Land. Der Mann verlangt einen „Vertrauensbeweis“: Dazu soll sich der Teenager über den Abgrund lehnen und ihn bei den Händen fassen. Das Opfer gehorcht - und sein Entführer lässt los. Nach Hause zurückgekehrt, sagt er zu den anderen beiden Jungen: „Es ist gemacht. Er ist tot.“

Doch er irrt sich: Am nächsten Morgen findet eine Spaziergängerin den jungen Mann blutüberströmt, aber lebendig. „Helfen Sie mir bitte“, sagt er leise. Es war riesiges Glück, dass der junge Mann den Sturz trotz schwerer Kopfverletzungen und Unterkühlung überlebt hat. Der Angeklagte hatte das Geschehen als Unfall dargestellt, doch für das Gericht stand die besondere Gefährlichkeit des Täters außer Frage. Im Gerichtssaal bewegte der sich während der ganzen Urteilsverkündung kaum. Seinen Schal hatte er sich bis zur Nase hochgezogen. So, als wolle er sich in sich selbst verkriechen.

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