Interview mit Bornheims Inklusionsbeauftragter Diese Erfolge und Schwierigkeiten sieht Gisela Rothkegel

Bornheim · Gisela Rothkegel ist seit 2012 Bornheims erste ehrenamtliche Inklusionsbeauftragte. Im Interview mit ga-bonn.de spricht sie über Erfolge und Schweirigkeiten bei der Umsetzung der Inklusion.

 Eine Schülerin mit Down-Syndrom im Unterricht: „Inklusive Pädagogik ist noch nicht Alltag geworden“, sagt die frühere Leiterin der Verbundschule Gisela Rothkegel.

Eine Schülerin mit Down-Syndrom im Unterricht: „Inklusive Pädagogik ist noch nicht Alltag geworden“, sagt die frühere Leiterin der Verbundschule Gisela Rothkegel.

Foto: picture alliance / dpa

Was macht Inklusion für Sie aus?

Gisela Rothkegel: Die Teilhabe aller an allen Lebensbereichen. So wird es ja auch in der UN-Konvention deutlich. Mein Leitsatz im Umsetzungsprozess von Inklusion lautet dennoch kritisch „Inklusion mit Augenmaß“, denn ich sehe durchaus auch Grenzen und bedauere, dass man Einrichtungen für Menschen mit Behinderung oft mit Vorurteilen begegnet.

Wo sehen Sie die Grenzen?

Rothkegel: Es gibt schon Fälle, bei denen mir Zweifel kommen, ob zum Beispiel das Gymnasium wirklich der richtige Förderort ist. Auch die zunehmende Verhaltensproblematik stellt für die Regelschulen unter gegebenen Bedingungen eine große Herausforderung dar. Nicht zu übersehen ist auch, dass Eltern mitunter bewusst die Förderschule für ihr Kind wählen, damit es unter seinesgleichen ist und andere Bedingungen hat als in der Regelschule.

Sehen sich Eltern zum Teil unter Druck gesetzt, dass sie die Förderschule vielleicht gar nicht mehr als Wahlmöglichkeit begreifen?

Rothkegel: Ja, da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Ich bin für alternative Möglichkeiten und finde es vorschnell, dass man aufgrund der Mindestgrößenverordnung schon Förderschulen geschlossen hat, obwohl Förderschulen doch die Ressourcen bieten, die in Regelschulen fehlen.

Sie meinen mehr Personal?

Rothkegel: Das ist der allerwichtigste Punkt. Ich bin in Bornheim auf große Aufgeschlossenheit gestoßen, was die Umsetzung von Inklusion anbelangt. Aber wenn man fragt, wo die größten Probleme sind, steht an erster Stelle immer die personelle Situation. Erst mal braucht es mehr Lehrer, es fehlen Fachleute wie Sonderpädagogen. Wenn ich sehe, dass Kinder mit Förderbedarf zum größten Teil nur zwei Wochenstunden sonderpädagogische Unterstützung erhalten, dann ist das zu wenig.

Müsste man nicht auch die Lehrer besser vorbereiten?

Rothkegel: Ja, ich nenne das inklusive Pädagogik, und die ist noch nicht Alltag geworden, woher auch? Die Kollegen in den allgemeinen Schulen haben nicht gelernt, nach inklusiven Kriterien zu unterrichten und müssen das praktisch zusätzlich leisten. Dabei bleibt mit zwei sonderpädagogischen Förderstunden so manches Kind auf der Strecke, denn bei allem guten Willen fehlt die Zeit, sich um alle Kinder gleichermaßen zu kümmern. Kritisch dazu möchte ich anmerken, dass durchaus noch so manche Schule zu sehr im eigenen System verharrt.

Was mache ich als Elternteil, um meinem Kind die bestmöglichen Chancen zu bieten?

Rothkegel: Es ist natürlich immer eine Einzelfallfrage. Aber ich finde es grundsätzlich gut, dass Eltern das Recht haben, dass ihr Kind wie alle anderen Kinder, die es schon aus dem Kindergarten kennt, die wohnortnahe Grundschule besuchen kann. Aber dennoch sollten Eltern das Lernverhalten und die Lernfortschritte ihres Kindes gut beobachten und mögliche Hilfen annehmen. Bei der Wahl der weiterführenden Schule rate ich Eltern, genau hinzuschauen und zu fragen: Was kann die Schule leisten? Wie ist sie ausgestattet? Welche personellen Möglichkeiten bietet sie? Sind da noch andere Kinder mit Förderbedarf, damit das Kind kein „Einzelkämpfer“ sein muss?

Wo sehen Sie denn die Chancen der Inklusion?

Rothkegel: Zum Beispiel ist es toll, wenn das Kind in seinem örtlichen Umfeld verbleibt, wo es schon von klein auf Kontakte geknüpft hat. Manche Förderkinder müssen mitunter eine kilometerweit entfernte Förderschule besuchen. Und natürlich profitiert das Kind mit Förderbedarf von den anderen Kindern und diese umgekehrt auch von ihm. Kinder lernen schon frühzeitig, sich auf Vielfalt einzustellen. Es wird zur Selbstverständlichkeit, dass wir eben nicht alle gleich sind. Und zum anderen bekommt das Kind mit Förderbedarf Unterrichtsangebote, die es möglicherweise an der Förderschule so nicht bekäme.

Die Stadt Bornheim gehörte zu den 52 NRW-Kommunen, die mit einer Verfassungsklage gegen die Vorgaben der rot-grünen Landesregierung zur schulischen Inklusion gescheitert sind. Bedauern Sie, dass die Klage abgewiesen wurde?

Rothkegel: Ja natürlich. Es ist zu begrüßen, dass die Stadt Bornheim in der Vergangenheit immer wieder kritisch bis nach oben hin Position bezogen hat. Es gab viele Veranstaltungen zum Thema, die Stadt hat ein Inklusionsbüro eingerichtet und selber ein Budget für Inklusion bereitgestellt. Auch wenn die Klage keinen Erfolg hatte, so ist doch nicht zu übersehen, dass es insgesamt an finanziellen Mitteln fehlt. Unsere sämtlichen Einrichtungen müssen anders gestaltet werden – also Barrierefreiheit im weitesten Sinne, und das geht nicht ohne Geld.

Wobei es ja auch kritische Stimmen gibt, die sagen: Warum nimmt man nicht die Mittel und das Personal, die dadurch frei werden, dass Förderschulen geschlossen werden. Geht diese Rechnung auf?

Rothkegel: Das stimmt im Endeffekt. Nur wir sind einfach noch nicht so weit. Auch meine Vision ist es, dass alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen so gestaltet sind, dass wir Inklusion verwirklichen können. Wenn ich mir eine inklusive Schule vorstelle, dann müssten die ganzen Räumlichkeiten schon anders gestaltet sein.

Wie würden Sie das machen, wenn Sie das Geld hätten?

Rothkegel: Natürlich ist Geld nicht alles! Eine inklusive Schule braucht vor allem mehr und anders gestaltete Räumlichkeiten, die den neuen pädagogischen Ansprüchen gerecht werden. Ganz wichtig ist auch, dass Barrierefreiheit nicht nur den behindertengerechten Aufzug meint. Es müssen Orientierungshilfen in den Schulen gebaut werden, zum Beispiel farblich unterschiedlich gestaltete Etagen. Wege sollten mit Markierungen und Symbolen ausgeschildert sein, mit denen auch Kinder klarkommen, die nicht gut lesen können. Oft sind es banale Dinge.

Und was das Personal angeht?

Rothkegel: Jedes erste Schuljahr sollte mit Lehrern doppelt besetzt sein. Denn am Schulanfang ergibt sich ein sehr differenziertes Bild, nicht alle Kinder mit Förderbedarf sind erfasst, denn nur in Ausnahmefällen wird ein Antragsverfahren genehmigt. Aber gerade das erste Schuljahr halte ich für sehr wichtig, denn hier werden die Weichen für die weitere Schullaufbahn gestellt. Insgesamt würde ich mir mehr Lehrer, Sonderpädagogen und Fachpersonal wünschen, zum Beispiel Schulbegleiter, die die ganze Klasse und nicht nur einzelne Kinder im Blick haben. Der größte Anteil der Kinder mit Förderbedarf sind Kinder aus dem Lernbereich. Da bräuchte es auch Sozialarbeiter und Therapeuten.

Sie sind jetzt seit fünf Jahren ehrenamtliche Inklusionsbeauftragte. Was ist schon erreicht worden?

Rothkegel: Auch wenn sich im Laufe der Zeit eine gewisse Ernüchterung eingestellt hat, vielleicht sogar Enttäuschung, so hat doch in den Köpfen schon ganz viel stattgefunden. Insgesamt erlebe ich große Bereitschaft und Engagement, sich dem Thema zu stellen. Das Bild des Menschen mit Behinderung ist im Alltag fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden, das reicht bis hin in die Medien. Das war vor etlichen Jahren nicht denkbar. In den Bildungseinrichtungen hat ein erkennbares Umdenken stattgefunden, und die Kollegen kämpfen eigentlich täglich dafür, die notwendigen Bedingungen zu schaffen.

Wie geht es weiter?

Rothkegel: Die ersten Kinder seit Einführung der Inklusion sind bald so weit, dass sie die Schule verlassen. Jetzt müssen wir weiterschauen in die Berufswelt. Nun geht es darum, wie der Jugendliche mit Behinderung auch in Gesellschaft und Beruf klarkommt. Eine inklusive Arbeitswelt ist noch nicht selbstverständlich.

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