Kommentar Steinmeier in Russland - Auf schmalem Grat

In Sotschi scheint die Sonne, die Sportler und das TV-Volk jubeln über Medaillen. Keine Rede mehr von halbfertigen Hotels, um ihren Lohn betrogenen Arbeitern oder Homosexuellen-Diskriminierung.

Der Glanz Olympias überstrahlt alles. Für den Moment scheint das Kalkül von Kreml-Chef Wladimir Putin aufzugehen, der mit seinen Spielen Russland und sich selbst der Welt als modern, zupackend, glanzvoll präsentiert. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verhindert, Teil der Putin-PR zu werden, indem er sich bei seinem ersten Russland-Besuch im neuen Amt einen Olympia-Abstecher verkneift.

Vielleicht auch, um seinem Ruf als Russland-Versteher entgegenzuarbeiten, den er sich in seiner ersten Außenminister-Amtszeit erworben hatte. Dass Steinmeier in einer Situation nach Moskau reist, in der Russland und der Westen auf dem Stellvertreter-Schauplatz Ukraine in eine Konfrontation verwickelt sind, die an unselige Kalte-Krieg-Zeiten erinnert, macht dennoch Sinn.

Die US-Regierung mag sich über die aus ihrer Sicht lasche Haltung der europäischen Staaten im Streit über die Ukraine aufregen. Angesichts der klaren Kante, die die Regierung Obama im Verhältnis zu Russland pflegt, raunen manche Experten schon von einer neuen Eiszeit. Für Deutschland und die EU ist der Preis einer offenen Konfrontation aber wesentlich höher als für den großen transatlantischen Bruder.

Dass Brüssel und Berlin den Gesprächsfaden nicht kappen, ist daher kein Zeichen von Schwäche, übergroßer Nachgiebigkeit oder gar stillschweigender Duldung für Putins autokratisches Staatsverständnis. Es ist schlicht die Anerkennung der Tatsache, das Russland eine entscheidende Größe ist - als Wirtschafts- und Militärmacht und für Fortschritte auf den weltweiten Krisenherden vom syrischen Bürgerkrieg über den Nahost-Konflikt bis zum iranischen Atom-Programm.

Die Notwendigkeit einer Einbindung Russlands oder die schönen Bilder aus Sotschi dürfen jedoch nicht bedeuten, die Augen zu verschließen vor den Missständen in Putins Staat: vor manipulierten Wahlen, vor der Verfolgung von Oppositionellen durch die Justiz, vor Durchsuchungen bei ausländischen Nichtregierungsorganisationen, vor Verfolgung und Gewalt gegen Homosexuelle. Über diese Themen nicht zu reden, würde einer stillschweigenden Billigung gleichkommen.

Außerdem haben Deutschland und die Europäer keinen Anlass, sich vor Putin im Krebsgang zu bewegen. Auch Russland hat ein erhebliches Interesse an guten Beziehungen zu Berlin und Brüssel. Deutschland alleine ist drittwichtigster Handelspartner der Russen, russische Unternehmen und Regionen werben um Investitionen und Know-How-Transfer. Steinmeiers Mission in Moskau: Standpunkte klarmachen, ohne Türen zuzuschlagen - eine Wanderung auf schmalem Grat.

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