Klassische Märchen, verblassende Utopien

Tankred Dorst leitet zu seinem 75. Geburtstag mit dem Bonner Generalintendanten Manfred Beilharz die Bonner Biennale

  Tankred Dorst:  "Es ist alles vergebens, auch das Stückeschreiben

Tankred Dorst: "Es ist alles vergebens, auch das Stückeschreiben

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Bonn. "Das Verruchte weckt und beschäftigt die Fantasie. Der Anstand glättet sie", hatte Tankred Dorst vor zehn Jahren in seiner Büchner-Preis-Rede erklärt. "Saustücke", pflegte seine hochgebildete Mutter die Stücke ihres Filius zu nennen. "Das mag irgendwie ein Stachel in mir sein, der mich noch immer antreibt, es Mama zu zeigen", so der Dramatiker. Doch in seine heute noch enorme Produktivität mischen sich Zweifel an der eigenen Arbeit: "Es ist alles vergebens, auch das Stückeschreiben."

Tankred Dorst, der am 19. Dezember vor 75 Jahren im thüringischen Oberlind bei Sonneberg als Spross einer gut situierten Fabrikantenfamilie das Licht der Welt erblickte, schaffte 1961 mit seiner "Großen Schmährede an der Stadtmauer" - einem stark an Brecht orientierten Stück - den Durchbruch. Die Auseinandersetzung mit der Historie, die die Bochumer Theaterwissenschaftlerin Marianne Kesting als "merkwürdiges, stilistisches und thematisches Kunterbunt" bezeichnete, zieht sich wie ein roter Faden durch Dorsts Çuvre. 1968 - auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen - setzte der Autor dem 1939 verstorbenen Revolutionsdramatiker Ernst Toller mit dem nach ihm benannten Stück ein literarisches Denkmal. Dorst zeichnet in diesem viel gespielten Drama den von politischen Wirren geprägten Lebensweg des Schriftstellers und Verfechters der Räterepublik nach.

Der Vorwurf, reines Dokumentartheater zu betreiben, wurde zu Unrecht wiederholt gegen Dorst erhoben, auch im Kontext des 1973 uraufgeführten Stückes "Eiszeit". Aber gerade dieses Theaterstück, das sich mit der Vita des dem Faschismus zugeneigten norwegischen Nobelpreisträgers Knut Hamsun befasst, widerlegt diese These durch seine starke künstlerische Verfremdung ebenso wie das Mysterienspiel "Merlin" (1981). Von nach wie vor großer Aktualität ist der in Zusammenarbeit mit seiner Lebensgefährtin Ursula Ehler entstandene Zyklus um eine durch die Teilung Deutschlands getrennte Großbürgerfamilie ("Dorothea Merz", "Auf dem Chimborazo" und "Die Villa"). Diese Stücke dienten auch als Vorlagen für äußerst erfolgreiche Fernsehspiele. Gemeinsam mit dem Bonner Generalintendanten Manfred Beilharz leitet der Dramatiker die Biennale, das renommierte Festival zeitgenössischer europäischer Dramatik.

Tankred Dorst, der im Fragebogen des FAZ-Magazins Dostojewskij und die Brüder Grimm als seine Lieblingsautoren nannte, erwies sich in den zurückliegenden vierzig Jahren als äußerst vielseitiger und engagierter, nie in die Sphären des Elfenbeinturms entfliehender Dramatiker, der dem deutschen Nachkriegstheater manches Glanzlicht aufsetzte. Theater um des Theaters willen war ihm stets ein Gräuel.

Davon legen auch seine jüngsten Werke ein beredtes Zeugnis ab. Ob "Fernando Krapp" (1992), "Herr Paul" (1994), "Nach Jerusalem" (1994), "Schattenlinie"(1995), "Geschichte der Pfeile" (1996), die ziemlich verunglückte Heine-Adaption "Harrys Kopf" (1997), das in Bonn und Dresden gleichzeitig uraufgeführte Stück "Was sollen wir tun?" (1997) oder die "Große Szene am Fluss" (1999): Tankred Dorsts Stücke tragen eine unverwechselbare Handschrift, bestimmt von einer Synthese aus ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein, klassischen Märchen und immer stärker verblassenden Utopien.

"Die gescheiterte Utopie, das Misslingen, das ist unser Thema", so der Dramatiker über die Arbeit des Gespanns Dorst/Ehler. Der Frankfurter Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier charakterisiert den Büchner-Preisträger, der von den Intendanten Zadek und Palitzsch protegiert wurde und einst vom Marionettentheater den Weg auf die großen Bühnen fand, mit den prägnanten Sätzen: "Dorst ist als Dramatiker immer Historiker. Er hat die Seite der Geschichte im Blick, die im Dunkel liegt. Dorst führt Prozesse vor, aber keine Urteile."

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