Gericht: Tödlicher Kopfschuss war kein Mord

Bonner Schwurgericht verurteilt 30-Jährigen wegen fahrlässiger Tötung und versuchten Totschlags zu acht Jahren Haft - Staatsanwältin hatte Lebenslänglich und Sicherungsverwahrung gefordert

Bonn/Bornheim. Entsetzt schlägt sich Annas Mutter die Hand vor den Mund, so als müsse sie den Schrei zurückdrängen. Fassungslosigkeit und Schmerz kann sie jedoch nicht verbergen, als das Bonner Schwurgericht sein Urteil über den 30-jährigen Mario S. spricht, der am 15. Mai 2000 in Bornheim-Merten ihre 16-jährige Tochter mit einem Kopfschuss tötete und einen Bekannten mit einem Bauchschuss schwer verletzte: Das Gericht wertet den tödlichen Schuss nicht als Mord, sondern verurteilt Marios S. wegen fahrlässiger Tötung und versuchten Totschlags zu acht Jahren Haft. "Dass der Schuss absichtlich oder mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegeben wurde, haben wir nicht feststellen können", erklärt Schwurgerichtsvorsitzender Udo Buhren. "Aber wir", kommt es aus dem Publikum von dem Mann, den Mario S. damals fast tötete. Staatsanwältin Karen Essig hatte wegen Mordes und versuchten Totschlags lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung gefordert.

Annas Mutter weint lautlos hinter ihrer Hand, sie zittert, springt schließlich auf, schafft es gerade noch aus dem Saal, und dann kommt der Schrei, schmerzerfüllt. Immer wieder ist er im Saal zu hören, wo sich Richter Buhren bemüht, dieses für den juristisch ungeübten Verstand schwer zu fassende Urteil zu begründen. Im Publikum ist Weinen zu hören und Stimmen, die ihr Entsetzen äußern, allen voran das 32-jährige Opfer und seine Freundin, die den Todesschuss sah.

Doch wie immer geht es am Tag des Urteils um den Angeklagten, sein Leben, seine Tat und darum, die nach Meinung des Gerichts richtige Strafe zu begründen, und Richter Buhren kommt seiner Aufgabe nach: Mario S., der seinen Vater nie kennen lernte, wurde mit fünf von der Mutter ins Heim gegeben. Dort fiel er durch große Aggressivität auf, kam zu Pflegeeltern, wo er Prügel bezog. Er arbeitete als Callboy, Zuhälter, ließ sich von Frauen aushalten und beging Straftaten, 18 Vorstrafen hat er. Am 1. Dezember 1998 wurde er verurteilt, weil er seinen Pitbull auf seine damalige Freundin gehetzt hatte, im September 1999 wurde er wegen eines Raubüberfalls verurteilt, insgesamt zu fünf Jahren und zwei Monaten. Schon im Februar 2000 kam er für eine Drogentherapie aus dem Knast, brach sie wenig später ab, tauchte unter und lernte die 16-jährige Anna kennen, die ihm völlig verfiel. Er arbeitete mit ihr im Nachtclub - und stahl einer Kollegin den Revolver.

Das Paar war unzertrennlich, und allen fiel auf, welche Macht Mario S. über die 16-Jährige ausübte. Anfang Mai schlüpften die zwei bei einem Paar mit Baby in Bornheim-Merten unter, und am Abend des 15. Mai passierte es: Die 22-jährige junge Mutter feierte Geburtstag, und Mario S. stellte seiner Freundin, die keinen Alkohol vertrug, immer wieder Schnaps hin. Sie trank ihn, bis ihr schlecht wurde und sie sich im Bad übergeben musste. Mario wurde sauer, drohte ihr mit der Waffe: Wenn das noch mal passiere, werde er sie töten. Dann schleppten er und die 22-jährige Bekannte Anna ins Schlafzimmer, und Mario warf seine Freundin aufs Bett. Die 22-jährige Bekannte wollte gerade das Zimmer verlassen, da sah sie, wie Mario mit der Waffe auf Annas Kopf zielte - und plötzlich schoss.

Das habe er nicht gewollt, erklärte er sofort danach, der Schuss habe sich gelöst. Und vor Gericht beteuerte er: Er habe den Hahn gespannt gehabt, aus Machtgehabe, habe ihn wieder zurücknehmen wollen - und sei abgerutscht. Dabei habe sich der Schuss gelöst. Und das, so das Schwurgericht nun, sei ihm nicht zu widerlegen, zumal eine Rekonstruktion mit dem Schusswaffengutachter gezeigt habe, dass es so habe passieren können. Und noch etwas spreche für seine allerdings höchst grobe Fahrlässigkeit: Mario S. habe absolut kein Motiv gehabt, seine Freundin, die er brauchte, zu töten. Auch sei er am Tatort geblieben, habe direkt nach einem Krankenwagen verlangt und unbedingt wieder in die Wohnung zu Anna gewollt, nachdem ihn der 32-jährige Inhaber geworfen habe. Der hatte ihn aus Angst um seine Frau und die Gäste die Treppe hinunter geprügelt - und war niedergeschossen worden.

"Wir hoffen, dass wir erklären konnten, warum wir diese Entscheidung treffen mussten", sagt Buhren zum Schluss. Das 32-jährige Opfer aber versteht ihn nicht und sagt: "Ich bin sehr enttäuscht vom Gericht." Bevor er den Saal verlässt, sagt er: "Im Grab werde ich dein Richter sein." Seine Frau ruft dem Angeklagten zu: "Du wirst deine gerechte Strafe noch bekommen, Mario." Der Mann auf der Anklagebank blickt niemanden an. Er hatte bei der psychiatrischen Gutachterin über sich selbst gesagt: "Ich weiß, dass ich eine Zeitbombe bin."

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