"Der Kirschgarten" in den Kammerspielen Man muss wissen, wer man ist

bonn · In der Serie "Junge Kritikerwerkstatt" laden wir junge Menschen ein, unsere Artikel durch ihre eigenen Eindrücke und Einschätzungen zu ergänzen. Konkretes Beispiel: Ein Redakteur und ein junger Kritiker haben gemeinsam eine Theateraufführung besucht. Daraus sind zwei Texte entstanden. Für diese Folge haben GA-Redakteur Dietmar Kanthak und Malte Huck Klaus Weises Inszenierung von Anton Tschechows "Der Kirschgarten" in den Kammerspielen besucht.

 Louisa Stroux (l.) und Katharina von Bock im "Kirschgarten".

Louisa Stroux (l.) und Katharina von Bock im "Kirschgarten".

Foto: Thilo Beu

Kann man ein Theaterstück, dessen Veröffentlichung weit mehr als 100 Jahre zurückliegt, so aufführen und gestalten, dass es in der heutigen Zeit, in der gänzlich andere Normen und Probleme akut sind, immer noch schockierend und dramatisch ist? Diese Frage, oder zumindest eine ähnliche, war es, die mich am meisten beschäftigte, bevor ich das Stück "Der Kirschgarten" von Anton Tschechow in den Kammerspielen Bad Godesberg besuchte.

Würde mich die Inszenierung von Klaus Weise mitreißen oder kalt lassen? Leider gibt es für mich keine eindeutige Antwort auf diese Frage, denn trotz der modernen Inszenierung, inklusive Projektion von Bildern auf die aus mehreren, fest gespannten Leinwänden bestehende Bühne und vielen interessanten Accessoires schaffte es Weise nicht, die Gratwanderung zwischen Komik und Dramatik, Vergangenheit und Gegenwart so zu meistern, dass man vollkommen mitgerissen wurde; enttäuscht wurde man aber auch nicht.

Den Fokus legte er bei der Handlung auf wenige, aber wichtige Aspekte. Die Gutsbesitzerin Ranewskaja kehrt zu ihrem Landgut nach Russland zurück. Auf dem Landgut befindet sich ein Haus, umgeben von einem Kirschgarten. Das Anwesen muss aufgrund immenser Verschuldung komplett verkauft werden. Die einzige Hoffnung wird vom Kaufmann Lopachin verkörpert, der den Vorschlag macht, den ertragslosen Kirschgarten abzuholzen und Ferienhäuser zu erbauen, die an Sommergäste vermietet werden könnten. Leider trifft sein Vorschlag auf taube Ohren, denn wenn es eine Sache gibt, die Familie Ranewskaja ignoriert, dann ist es die Veränderung. Doch ist die Zeit um 1900 voll davon.

Die Rolle des russischen Adels verändert sich. Er ist in seiner Funktion zweck- und sinnlos geworden. Er bringt der Gesellschaft keinerlei Nutzen mehr. Bildlich steht hierfür der Kirschgarten, der nicht mehr im Stande ist, seine einzige Funktion, Kirschen zu produzieren, auszuführen. "Man muss wissen, wer man ist", schreibt Tschechow in seinem Stück, jedoch weiß das in diesem Stück niemand so genau, denn genau wie der Kirschbaum haben die meisten Personen in diesem Stück ebenfalls ihre Funktion verloren.

Dass der Kirschbaum trotzdem wunderschön aussieht und viele Leute staunen, wenn sie seine strahlenden weißen Blüten sehen, hat wieder Ähnlichkeit mit dem Adel. Denn auch dieser gibt vor, etwas zu sein, das er schon längst nicht mehr ist.

Während die erste Hälfte durch schlechte Akustik, verhaltene Schauspieler und gezwungene Komik eher enttäuschte, erfährt man in der zweiten Hälfte eine viel überzeugendere, aufregendere Inszenierung. In dieser erfährt man nämlich, wie wichtig den Protagonisten ihr Reichtum, ihre Macht und ihr Stand war, wie oberflächlich manche Menschen in dieser Zeit miteinander umgegangen sind und wie viel wichtiger es war, gut und reich auszusehen, als es zu sein.

Diese Diskrepanz zwischen dem, was die Darsteller vorgeben zu sein und eigentlich sind, macht die zweite Hälfte zu einer wirklich aufregenden und guten. Die Schauspieler sind wie ausgewechselt, und man ist wirklich gespannt, wie das Stück ausgehen mag. Die sarkastische Umsetzung Weises begeistert.

Insgesamt ist diese Umsetzung, trotz vereinzelter unüberzeugender Stellen, sehr unterhaltsam und an manchen Stellen äußerst ramatisch geworden. Die Besetzung ist überwiegend überzeugend bis stark, das Bühnenbild jedoch eher enttäuschend. Malte Huck

Klaus Weises "Kirschgarten" in den Kammerspielen ist kein Triumph, aber die Inszenierung feiert Punktsiege. Das liegt unter anderem an den Schauspielerinnen. Maria Munkert ist zauberhaft, Louisa Stroux intensiv und Tanja von Oertzen ein todtrauriger Clown. Lisa Guth und Anastasia Gubareva haben kostbare Momente, Katharina von Bock spielt ihre Ranewskaja wie eine russische Blanche Du Bois. Schade nur, dass dieser Bonner "Kirschgarten", altmodisch ausgedrückt, nicht wirklich ans Herz rührt.

"Der Kirschgarten" wird in der Spielzeit 2012/2013 wiederaufgenommen. Wer Interesse hat, an unserer Serie teilzunehmen, melde sich bitte per E-Mail unter junge-kritikerwerkstatt@ga.de oder unter der Rufnummer 0228/6688444.

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