Katastrophe von 1986 Tschernobyl: Wo Apokalypse Attraktion ist

Kiew · Der Unfallreaktor von Tschernobyl ist inzwischen Kult, Thema für erfolgreiche Fernsehserien und Touristenattraktion. Die überlebenden Atomtechniker, Anwohner und Liquidatoren aber kämpfen bis heute mit der Katastrophe von 1986.

Am Eingang zur Kantine des Atomkraftwerks Tschernobyl sitzt ein noch junger Hund. Über ihm hängt ein Schild: „Wir bitten dringend, Hunde nicht zu füttern. Nehmen Sie Rücksicht auf die Pflege der Grünanlagen.“ Die Hunde hier ignorieren das Schild, auch die Arbeiter, die auf der Bank gegenüber sitzen. Sie streicheln und füttern die Streuner, große, sehr schlanke, weißgraue Tiere.

Niemand weiß, wie viele Hunde nach dem Reaktorunfall vom 26. April 1986 umgekommen sind. Es gibt auch keine Statistik, wie viele Menschenleben die Atomkatastrophe gekostet hat. „Offiziell sind es noch immer die 31 Leute, deren Fotos hier hängen“, sagt eine junge Mitarbeiterin des Tschernobyl-Museums in dem 45 Kilometer entfernten Städtchen Slawutitsch. Dort lebt jetzt ein Großteil der AKW-Techniker von Tschernobyl, dessen letzter Reaktor Ende 2000 abgeschaltet wurde. Aber im Museum hängt auch eine Schrifttafel: Allein in der Ukraine hätte die Gesundheit von 2,1 Millionen Menschen, darunter 450 000 Kindern, gelitten. Westliche und russische Wissenschaftler streiten über 4000, 60 000 oder 1,44 Millionen Krebstote.

Die Leute von Tschernobyl aber reden viel über Hunde. Alexej Moskalenko war Milizleutnant in der Kleinstadt Prypjat, wo die AKW-Techniker von Tschernobyl und ihre Familien wohnten. Er sagt, von den zehn Polizeihunden in Prypjat hätte nur einer überlebt, eine Königsdogge, deren kurzes Fell man reinwaschen konnte. Neun Schäferhunde mussten erschossen werden, weil sich die radioaktiven Teilchen aus ihren längeren Haaren nicht mehr entfernen ließen.

Als die 49 000 Einwohner zwei Tage nach der Explosion im vierten Reaktor von Tschernobyl evakuiert wurden, ließen sie ihre Haustiere mit Wasser und Futter in den Wohnungen zurück, man hatte ihnen erklärt, sie könnten nach drei Tagen heimkehren. Aber das verstrahlte Prypjat wurde zur verbotenen Stadt, Moskalenko und anderen Milizionäre bewachten sie. „In Hauseingängen lagen sterbende Hunde und sahen uns an.“

Konstruktion besaß fatalen Mangel

Der vollbesetzte Reisebus saust über eine leere Asphaltgerade. Links und rechts drängen zwischen alten Kiefern junge Birken, Erlen und Pappeln dem Licht entgegen. Die Wälder um Tschernobyl gedeihen. In der Zone sind wieder Wölfe aufgetaucht und Braunbären. Wisente und Przewalski-Wildpferde wurden erfolgreich ausgewildert, auch andere seltene Tierarten vermehren sich. Die Radioaktivität schadet dem Wild offenbar wenig.

Ein Dutzend ukrainischer Reisebüros bieten Fahrten in die 2600 Quadratkilometer große Sperrzone an. Bis zu 2000 Touristen am Tag wollen an der Radioaktivität schnuppern, die Apokalypse ist zur Attraktion geworden. Und die US-britische TV-Serie Tschernobyl bricht alle Zuschauerrekorde.

Viktor Iwkin arbeitete in der Unglücksnacht als Messtechniker im vierten Reaktorblock. Ein Experiment war geplant. Als er von einem Gang aus dem Turbinensaal durch die Schaltzentrale zurückkehrte, bemerkte er, dass es Probleme gab. Die Aktivität des Reaktors sank tiefer als vorgesehen. „Aber dann haben sie den Reaktor wieder stabilisiert, ich bin gegangen.“ Er erlebte nicht mehr, wie sich das Hochfahren überraschend beschleunigte, wie der zuständige Ingenieur auf den Notabschaltknopf drückte.

Aber die Konstruktion der Reaktoren besaß einen fatalen Mangel: Das Einfahren der Bremsstäbe wirkte zunächst umgekehrt, Aktivität und Temperatur im Reaktor schossen in die Höhe, zwei Wärmeexplosionen zerrissen den Reaktor. Tonnen radioaktiver Teilchen flogen in die Luft.

Draußen bemerkte kaum jemand etwas. „Es knallte zweimal, als hätte jemand in der Nachbarschaft die Tür zugeschlagen“, sagt Milizionär Moskalenko. Er hatte gerade zwei Schwarzfischer am Kühlteich von Tschernobyl erwischt. Aber der Reaktor war jetzt atomarer Schutt, „es regnete Asche, die nach verkohltem Kabel roch“. Moskalenkos Gesicht glühte, aber im Spiegel sah er später ein leichenblasses Gesicht. Strahlenverbrennungen.

Iwkin erzählt, ein Beta-Strahlenmesser an der Wand sei geplatzt. Die Männer zogen sich zu ihren Kollegen in den benachbarten dritten Reaktorblock zurück, drangen aber immer wieder in den Turbinensaal des Unglücksreaktors vor, nahmen Messungen vor, schalteten Systeme ein oder aus. Die Nachtschicht kämpfte um die Rettung des schon zerstörten Reaktors.

Arbeiter hatten schwere radioaktive Dosen

Gegen 5 Uhr kam das Kommando, die Hälfte der Messtechniker abzuziehen. „Mein Partner Igor Fedin sagte sofort: ,Vitja, du hast heute genug geschluckt. Und ich hab ja schon zwei Kinder.‘“ Den Rest der Nachtschicht verbrachte Iwkin im Luftschutzkeller des AKW, sah, wie Kollegen sich erbrachen, ihn packten die Brechanfälle Stunden später zu Hause. Fedin starb vor sechs Jahren.

Am Abend nach dem Unfall stiegen Iwkin und alle Kollegen der Nachtschicht, die sich noch auf den Beinen hielten, in Prypjat wieder in den Bus nach Tschernobyl. Die AKW-Techniker kehrten an ihren jetzt mörderischen Arbeitsplatz zurück. Dort kämpften Feuerwehrleute, Soldaten und Fachleute gegen den Größten Anzunehmenden Unfall (GAU). Hunderttausende folgten, eine Massenheldentat ohne viel Pathos.

„Wir haben das getan, was unsere Pflicht war“, sagen Iwkin und Moskalenko fast wortgleich. „Niemand hat gefragt, welche Strahlung er riskiert“, erklärt der Atomphysiker Viktor Gerasko. Er arbeitete nach dem Unfall 22 Jahre am Reaktor und seiner „Sarkophag“ genannten Schutzhülle. Er und andere Experten hätten vor strahlenträchtigen Aufgaben manchmal ihr Dosimeter liegen gelassen, um nicht wegen zu hoher persönlicher Dosen aus dem Gefecht genommen zu werden.

Das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl sieht ein bisschen aus wie manche Bauwerke im Ruhrgebiet. Über einer verrotteten Industrielandschaft mit rostigen Rohrleitungen thront die Schutzhülle des Reaktors und glänzt silbern wie ein futuristisches Fußballstadion. Ein zwei Milliarden Euro teures Gewölbe, Gerasko nennt es die „teuerste Scheune der Welt“. Es fehle an zweifelsfrei funktionierender Technik, um das Konzept des Projekts zu verwirklichen, den alten Stahlbetonsarkophag darunter auseinanderzunehmen und den verbliebenen atomaren Brennstoff zu entsorgen.

Der Messtechniker Iwkin und der Milizionär Moskalenko wurden mit schweren radioaktiven Dosen von 60 und 87 Röntgen in eine Kiewer Strahlenheilklinik gebracht und monatelang behandelt, mit Blutransfusionen, Ascorbin, Nikotinsäurespritzen und Importmedikamente. „Es gab kaum Erfahrungen, die Ärzte haben experimentiert“, sagt Iwkin. Nicht ohne Erfolg.

Beide kehrten in die Zone zurück, Moskalenko patrouillierte in Prypjat, Iwkin arbeitete im dritten Reaktorblock, bis auch der 2000 ausgeschaltet wurde. Die Tschernobyler sind jetzt um die 60, alle sind in Rente, trotzdem arbeiten die meisten weiter. Iwkin überstand 2003 einen Herzinfarkt und leitet jetzt einen Montagebetrieb. „Ich muss ja schließlich meine Enkel großziehen.“ Jetzt lächelt er.

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