Salzburg-Premiere mit Anna Netrebko Tosca in der Unterwelt

Salzburg · Anna Netrebko singt die Titelpartie in Puccinis Oper bei den Salzburger Festspielen. Dazu trägt sie ein Kleid mit 50 000 Kristallen.

 Anna Netrebko als Tosca und Ludovic Tézier als Scarpia.

Anna Netrebko als Tosca und Ludovic Tézier als Scarpia.

Foto: © SF / Marco Borrelli

Mafia-Filme sind ein unerschöpfliches Genre der Filmgeschichte, und weil es sich bei der Mafia um ein krakenhaft nachwachsendes System handelt, gibt es tatsächlich viele Streifen rund um die organisierte Unterwelt. Es gibt Mafia-Filme, die wie Sam Mendes’ „Road to Perdition“ eine moralische Sicht auf kriminelle Clans eröffnen. Die wie Francis Ford Coppolas „Der Pate“ eine überdimensionale Familien-Saga aufreißen. Die wie Sidney Lumets „Find Me Guilty“ den Konflikt der Organisation mit der Rechtsprechung schildern. Oder die wie John Hustons „Die Ehre der Prizzis“ die Chose ins Komische, ja in die Persiflage ziehen.

Eigentlich hat der Opernregisseur Michael Sturminger ebenfalls einen Mafia-Film entworfen, der einen verlockenden Titel wie „Showdown auf der Engelsburg“ tragen könnte. Doch dann hat er sich entschieden, die Kameras wegzulassen, das Ganze als Operninszenierung durchzuführen und Giacomo Puccinis „Tosca“ als dramaturgische Richtschnur einzuweben. Jetzt läuft das Drama, die Oper will es so, binnen weniger Stunden ab, beinahe in Echtzeit; eine kleine Reise durch Rom erleben wir, wobei der korrupte Polizeichef Scarpia nun der Pate einer Mafia-Vereinigung ist. Im Bühnenbild zum dritten Akt – die Produktion ist eine starke Überarbeitung einer Inszenierung von den Salzburger Osterfestspielen 2018 – leuchten in Versalien die Worte „Il Divo“ auf, eine diskrete Anspielung auf den gleichnamigen Film über den Politiker Giulio Andreotti, dem eine starke Nähe zur Mafia vorgeworfen, aber nie nachgewiesen wurde.

Bereits vor der Ouvertüre wird wüst geballert, zwischendurch gibt es die üblichen Ruppigkeiten wie Folter und Erpressung, doch das Ende ist ein Theatercoup allererster Güte. Tosca hat den Brutalinski Scarpia im zweiten Akt, um das Leben ihres Geliebten Cavaradossi und ihr eigenes zu retten, zwar schwer verletzt. Doch anders als in der Oper stirbt Scarpia nicht, sondern kann im dritten Akt, zügig genesen, in der Engelsburg auf die Dame warten, um sie zu erschießen. Zuvor sehen wir, wie Scarpias Mafia-Truppe Kinder darin trainiert, Menschen zu exekutieren. Cavaradossi ist ihr erstes Opfer.

Höchste Alarm- und Preisstufe

Natürlich geht so eine Transformation nie spurlos an einem konservativen Publikum wie dem in Salzburg vorbei. Fraglos gibt es berechtigte Einwände. Beispiel: Warum laufen Scarpias Schergen auch in privaten und sehr dunklen Gemächern immer mit Sonnenbrille herum? Trotzdem erzählt Sturminger die Geschichte plausibel, und letztlich ist es ja auch egal, denn die Diva, wegen einer „leichten Erkältung“ (kein Corona!) in der Generalprobe entschuldigt, meldet sich, wie Scarpia zügig genesen, als singfähig zur Premiere zurück.

Wenn Anna Netrebko die Titelpartie singt, herrscht in Salzburg höchste Alarm- und Preisstufe. Und die Fans dürfen durchatmen: Die Künstlerin meldet sich mit herrlichem Schmelz und imposanter Höhe, doch auch saftiger Tiefe zurück. Über die Partie gebietet sie mit großer Souveränität, gottlob völlig unaffektiert. Sie spielt die Partie nämlich mit Hingabe, nicht wie in der Kulisse abgestellt und nicht abgeholt. Tosca in der Unterwelt – das ist eine Verbindung von explosiver Kraft und sinnlicher Glut. Der kleine Schatten auf ihrer Stimme, gleichsam ein Flor von Unfreiheit und Trübung, interessiert allenfalls die Stimmbandfreaks aus der HNO-Heilkunde.

Erstaunlich gut schlägt sich Netrebkos realer Ehemann Yusif Eyvazov als Cavaradossi. Sein Timbre hat ja etwas faszinierend Unfertiges, manchmal kehlig und belegt, dann wieder wie sandgestrahlt, strahlend und mühelos auf den Spitzentönen. Das kann man viel schlechter singen. Die beeindruckendste Erscheinung ist allerdings Ludovic Tézier als Scarpia: ein nobler Schreibtisch-Terrorist, mit allen Wassern und Rasierwässerchen gewaschen, der böseste Kavalier unter Puccinis Sonne, dessen Bariton sich den Weg zu seinen Opfern freibrennt, diesmal – dank Sturminger – tatsächlich unsterblich. Wie ein Papst lässt er sich am Ende den Siegelring küssen; das Bühnenbild zeigt derweil eine gewaltige Fototapete mit dem nächtlichen Petersdom.

Niemand feuert die Wiener Philharmoniker an

Die Wiener Philharmoniker sind ein wunderbares Opernorchester, trotzdem brauchen sie jemanden am Pult, der sie anfeuert, der zwischen Bühne und Graben koordiniert, der das Klima wandelt. Marco Armiliato ist dieser Aufgabe keine Sekunde gewachsen. Man darf nie an berühmte Vorbilder denken, möglicherweise ist er Netrebkos Lieblingsdirigent, doch fehlt es an Brio, Intensität, Wechsel der Farben, an Atmosphäre. Man wünscht Signor Armiliato einen römischen Zenturio an die Seite, der ihn zwingt, zu Lernzwecken hundert Mal die legendäre Aufnahme unter Victor de Sabata zu hören.

Im zweiten Akt wurde ein berühmter Name ein zweites Mal in die Musikwelt eingeführt. Früher dachte man bei Hans Swarowsky stets an den weltberühmten Dirigentenwettbewerb gleichen Namens. Das Festspielpublikum verbindet damit jetzt eine (nur leicht anders geschriebene) Schmuckmarke und ein Kleid, in das 50 000 Kristalle eingearbeitet sind; Tosca trägt es im zweiten Akt. Für eine Kopie benötigen Normalsterbliche vermutlich eine Kreditkarte mit nach oben erweiterter Deckung.

Bravi für das hohe Paar und den Paten, ein paar Buhs für die Regie.

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