Klinik-Chef und Psychotherapeut Manfred Lütz "Burnout? Gibt es gar nicht"

BONN · Sandra Maischberger lädt ihn gerne ein. Auch bei Maybrit Illner war er zu Gast. Der Bestseller-Autor, Klinik-Chef und Psychotherapeut Manfred Lütz ist in deutschen TV-Studios als Experte gefragt. Nicht alle unter dem Begriff "Burnout-Syndrom" zusammengefassten Erschöpfungserscheinungen sind ein Fall für den Therapeuten, sagt er.

 Überfordert: Viele Menschen leiden an Erschöpfungserscheinungen. Nicht alle sind ein Fall für den Therapeuten, sagt Manfred Lütz.

Überfordert: Viele Menschen leiden an Erschöpfungserscheinungen. Nicht alle sind ein Fall für den Therapeuten, sagt Manfred Lütz.

Foto: GA-Archiv

Sie leiten ein Krankenhaus, sind häufig in Talkshows präsent, halten Vorträge, schreiben Bücher und haben eine Familie. Sind Sie Burnout-gefährdet?
Manfred Lütz: Nein, mir geht es gut. Im Übrigen gibt es Burnout als Krankheit gar nicht. Nach der ICD-10, der internationalen Klassifikation, ist Burnout gar keine Krankheit. Ich finde dieses Wort inzwischen sogar eher schädlich, denn es ist viel zu unklar. Wenn jemand sagt, er habe ein Burnout, dann kann er eine wirklich schwere Depression haben, aber möglicherweise hat er auch nur eine harmlose Befindlichkeitsstörung oder eine gar nicht harmlose Lebenskrise, die aber keine Krankheit ist und gegen die es also keine Therapie gibt.

Warum haben sich dann viele Prominente wie Ralf Rangnick oder Tim Mälzer als Burnout-Patienten bekannt?
Lütz: Ich habe Leute gefragt, die Bücher über ihr Burnout geschrieben haben, ob sie nicht eine Depression gehabt haben. Alle haben mir das bestätigt. Für manchen Depressiven war der Ausdruck Burnout weniger unangenehm als zum Beispiel das Wort Depression. Und deswegen fand ich das vor einigen Jahren sogar noch gut. Aber heute führt die inflationäre Verwendung des Wortes Burnout dazu, dass sich Menschen, die gar nicht krank sind, in Behandlungen drängen und den wirklich Kranken Therapieplätze wegnehmen.

Warum tauchen im Fernsehen häufig "Burnout-Experten" auf? Sind diese Leute Scharlatane?
Lütz: Das kann man nicht pauschal so sagen. Aber ganz sicher ist "Burnout" inzwischen ein lukratives Geschäftsmodell. Je mehr darüber geredet und geschrieben wird, desto mehr Gesunde kommen auf die Idee, dass bei ihnen auch irgendetwas nicht stimmt.

In Ihrem neuen Buch "Bluff" schreiben Sie: "Die eilfertige Pathologisierung des Lebens ist eine Fälschung der Welt". Ist Burnout nur ein Modewort oder eine Phantom-Krankheit?
Lütz: Dieses Buch ist mir besonders wichtig, weil es erklärt, warum es psychologisch heute für jeden Menschen ein Problem ist, dass wir zunehmend in künstlichen Welten leben und Gefahr laufen, unser eigentliches unwiederholbares Leben aus Versehen zu verpassen. Das ist dramatisch.

Welche künstlichen Welten meinen Sie?
Lütz: Die Wissenschaftswelt, die Medienwelt, die Finanzwelt und eben auch die Psychowelt sind nützliche künstliche Welten, in denen wir unvermeidlich leben, aber in ihnen kommt unser existenzielles wirkliches Leben nicht vor. Und wenn wir alle erschütternden Erlebnisse unseres Lebens für psychische Störungen halten, um die sich die Psychoexperten kümmern sollen, dann verlieren wir unser Leben an irgendwelche Techniken. Wer plötzlich von seiner Frau verlassen wurde, wem fristlos gekündigt wird, wer von einem Freund verraten wurde oder am Arbeitsplatz überfordert ist, dem geht es richtig schlecht, schlechter manchmal als einem schwer Depressiven, aber er ist gesund, und ihm hilft deswegen nicht irgendein junger "Burnout"-Spezialist, sondern jemand mit echter Lebenserfahrung.

Hat es früher, als die Menschen im Schnitt mehr und körperlich härter arbeiten mussten, ähnliche Krankheiten gegeben, die man heute als "Burnout" zusammenfasst?
Lütz: Das können wir nicht genau sagen, weil wir aus diesen Zeiten über keine guten Daten verfügen. Aber jedenfalls ist die Klage darüber, dass es jetzt so schlimm sei wie noch nie, falsch. Als mir ein Journalist mal sagte, dass doch heute die Menschen erstmals rund um die Uhr erreichbar seien, konnte ich nur antworten, dass im Dreißigjährigen Krieg die Menschen rund um die Uhr durch die Schweden erreichbar waren, das war viel unangenehmer. Im 19. Jahrhundert musste man zwölf Stunden unter Tage arbeiten ohne Urlaub oder sonstige Entspannung, im 20. Jahrhundert gab es zwei Weltkriege. Wir haben heute nicht mehr, aber andere Belastungen als früher.

Wie erklären Sie es sich, dass der Begriff "Burnout" in der Gesellschaft eher positiv besetzt ist, als Krankheit der Tüchtigen, die sich zu viel zugemutet haben, während viele depressive Patienten sich schwer damit tun, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen?
Lütz: Burnout wirkt aktiver. Da hat jemand mal "geburnt". Außerdem zeigt der Zeiger der Schuld eher auf andere, zum Beispiel einen schlimmen Chef.

In 20 Jahren hat sich in Deutschland die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen fast verdoppelt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Lütz: Fachleute sind sich darin einig, dass die schweren psychischen Krankheiten eher nicht zugenommen haben. Für die Zunahme entsprechender Krankschreibungen sind sicher eine ganze Reihe von Gründen zu nennen. Weil es mehr Wissen über psychische Erkrankungen gibt, kommen sicher mehr Kranke als früher zur Behandlung. Allerdings bringen manche unsinnigen Medienkampagnen auch Gesunde dazu, zu meinen, sie seien krank.

[kein Linktext vorhanden]Woran kann der Patient erkennen, ob er "nur" erschöpft ist oder bereits an einer psychischen Erkrankung leidet?
Lütz: Wenn die Erschöpfung bei einer Belastung angemessen ist, dann ist man nicht krank. Wenn aber eine Belastung, die man normalerweise problemlos bewältigt, plötzlich oder mehr und mehr zu Antriebslosigkeit und schlechter Stimmung führt, dann sollte man einen Psychiater aufsuchen.

Wie behandeln Sie einen Patienten, der von sich glaubt, am Burnout-Syndrom zu leiden?
Lütz: Immer respektvoll, denn jemand, der meint, ein Burnout zu haben, hat ein Recht darauf, zu erfahren, was er wirklich hat, ob er nun krank ist, eine existenzielle Erschütterung erlebt oder eher unter Befindlichkeitsstörungen leidet, die keiner Therapie bedürfen.

Was sollte man tun, um "Ausgebranntsein" zu vermeiden?
Lütz: Sich nicht überfordern und nicht unterfordern. Wenn jemand sich im Beruf auf einen Posten hochgearbeitet hat, dem er nicht gewachsen ist, dann sollte er die Situation ändern, den Posten verlassen und sich nicht mit letzten Kräften zu beweisen versuchen, dass man es doch schafft.

Gegenteil des Burnout-Syndroms ist das Boreout-Syndrom. Menschen, die darunter leiden, fühlen sich im Job unterfordert, was zu Frustration und Lustlosigkeit führt. Was raten Sie denen?
Lütz: Sich nicht eine Krankheit einreden zu lassen. Man könnte sich um einen anderen Job bemühen. Wenn das nicht geht, könnte man in der Freizeit etwas tun.

Wie sollte die Arbeitswelt organisiert sein, damit die Einen nicht unter der Last ihrer Aufgaben zusammenbrechen, während Andere sich langweilen?
Lütz: Man braucht gute Chefs. Ein professionell arbeitender Chef kennt die Potenziale seiner Mitarbeiter und versucht sie so einzusetzen, dass sie am besten zum Tragen kommen. Das nutzt den Mitarbeitern, aber auch der Firma.

Ihr Kollege Paul Watzlawick empfiehlt Menschen in Lebenskrisen, den Kontakt mit Psychotherapeuten zu meiden sich stattdessen Rat von Barkeepern, Lehrern, Detektiven, Bewährungshelfern, Piloten oder Polizisten zu holen. Was halten Sie von dieser Empfehlung?
Lütz: Er deutete damit humorvoll an, dass Psychotherapeuten manchmal zu viel auf die Defizite schauen und dass es besser ist, sich bei Lebenskrisen die Erfahrung anderen Berufsgruppen zunutze zu machen, damit man aus seiner Sackgasse herauskommt und wieder besser leben kann.

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