Fremde Welten im Bonner Ballsaal

Cocoon Dance zeigt seine neue Produktion "The Parallax View" im Theater im Ballsaal in Bonn. Die Aufführung verwandelt den Raum zu einer Wahrnehmungsmaschine mit neuen Sichtweisen.

Bonn. Das Theater ist eine Wahrnehmungsmaschine, die immer neue Sichtweisen auf die Realität produziert. Sichtweisen, die im Idealfall unseren Blick auf das Vertraute unterwandern und in Frage stellen.

Oder uns in fremde Welten katapultieren. Wie vertraut oder fremd das Gesehene ist, hängt vom Standort des Sehenden, vom Objekt und seinem Hintergrund ab. Parallaxe nennt sich das.

Tickets Karten im GA-Ticket-ShopWenn also ein Monitor eine Frau (Raquel Torrejón) zeigt, die im Scheinwerferlicht bei Nacht in einen Wald läuft, zugleich bei Tag auf den Betrachter zuläuft und auf der Bühne vergeblich aus den Startlöchern zu kommen versucht - dann liegt hier der Keim für eine Vielzahl an Geschichten.

Die neue Cocoon Dance-Produktion "The Parallax View" von Choreografin Rafaële Giovanola und Dramaturg Rainer Endraß jazzt zu Beginn die medialen Bedeutungsebenen gleich richtig hoch.

An der Wand steht: "Theorien schaffen Verknüpfungen mehr als Informationen"; Atmen mischt sich mit wenig verständlichen Durchsagen und einem rhythmisierten Geräuschsound (Musik: Jörg Ritzenhoff).

In einem weißen Zelt mit Gazefenstern in der Mitte des Theaters im Ballsaal sind zwei Paare zu sehen, die vor einer Leinwand sitzen und deren Körper rhythmisch vor sich hinzucken.

Dann verschieben sich die Koordinaten. Raquel Torrejón im blauen Kleid dreht das Zelt um seine eigene Achse. War sie zuvor rennendes Opfer, wird sie nun zur Täterin und zeigt dem Zuschauer die "Rückseite des Medaille".

Volkhard Samuel Guist kriecht mit abwehrenden Tritten und Armen aus dem Schutzraum hervor und wird im Scheinwerferlicht zum Gejagten.

Und es kommt noch schlimmer. Raquel Torrejón entreißt dem Zelt zwei seiner Außenwände und enthüllt so sein Innerstes.

Was da zum Vorschein kommt, ist eine radikale Beziehungsanalyse, von Volkhard Samuel Guist, Athanasia Kanellopoulou, Martin Inthamoussú und Victoria Perez phänomenal interpretiert.

Annäherungen, Berührungsunfähigkeit, Verschmelzungen, Körper bäumen sich auf und fallen nieder, alles mit ungeheurer Intensität getanzt. Raquel Torrejón steht im Hintergrund und lächelt maliziös. Ist das Zelt vielleicht nur ihr Denkraum, in dem sie ihre Assoziationen zum Tanzen bringt?

"The Parallax View", das seine Uraufführung im schweizerischen Sierre erlebte, wirkt etwas überfrachtet.

Der Verweis auf Verschwörungstheorien, digitale Medien, auf Realität und Fiktion kommen als romantischer Aufputz der seit Platon bekannten und in der Postmoderne forcierten Erkenntnis daher, dass Realität immer auch eine Frage der Interpretation ist.

Am Ende kehrt sich erwartungsgemäß der Blick um: Nun sitzt Raquel Torrejón im geschlossenen Zelt, und das PaarQuartett singt sich draußen eins. Alles auf Anfang - the show must go on.

Weitere Termine: 20., 21., 27. und 28. Mai.

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