Lesung mit Ostap Svylynsky in Bonn Geschichten am Bahnsteig

Bonn · Der ukrainische Pen-Vize Ostap Svylynsky ist zu Gast in der Bonner Uni. Er liest aus einem Werk, das er als „Wörterbuch des Krieges“ bezeichnet. Darin: überraschende bis erschreckende Eindrücke davon, was der Krieg in der Ukraine mit der menschlichen Wahrnehmung macht.

Fluchtort Bahnhof Lwiw: Eine Mutter trägt ihr Kind in einem Raum für Frauen und Kinder.

Fluchtort Bahnhof Lwiw: Eine Mutter trägt ihr Kind in einem Raum für Frauen und Kinder.

Foto: dpa/Mykola Tys

„Ich hasse es, zu träumen. Denn danach bricht alles wieder über mich herein.“ Worte aus dem Munde von Marina, einer ukrainischen Frau, die vor den russischen Invasoren geflüchtet ist und am Bahnhof von Lwiw, im Westen der Ukraine, angekommen ist. Gesprochen hat sie am Bahnsteig mit Ostap Svylynsky, und er, der Vizepräsident des internationalen Autorenverbandes Pen Ukraine, hat diese Worte noch am selben Abend aufgeschrieben. Ein oftmals positiv konnotierter Begriff wie „träumen“ verliert in diesem Kontext seine Bedeutung und erhält stattdessen einen düsteren Beigeschmack.

Svylynsky hat mit vielen geflüchteten Landsleuten am Bahnhof von Lwiw gesprochen und bald gespürt, wie häufig jene Bedeutungsumkehr vorkommt. So entstand die Idee zu einem „Wörterbuch des Krieges“, das derzeit in zehn Sprachen übersetzt wird – darunter ins Englische, Polnische, Tschechische und Ungarische. Die deutsche Buchfassung soll im nächsten Jahr erscheinen.

Ein „Wörterbuch des Krieges“

Auf Einladung des Bonner Literaturhauses sprach Svylynsky im Hauptgebäude der Universität Bonn mit Professor Martin Aust vom Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung Osteuropäische Geschichte. Svylynsky (Jahrgang 1978) hat sich im ukrainischen und polnischen Literaturbetrieb als Romancier, Lyriker, Dozent, Übersetzer und Herausgeber einer Literaturzeitschrift einen Namen gemacht. „Es ist sowohl ein dokumentarisches als auch literarisches Projekt“, sagte er über sein „Wörterbuch des Krieges“.

„Kriegsopfer mit eingeseiftem Po“

Ursprünglich sei er zum Bahnhof seiner Geburtsstadt Lwiw gekommen, um den flüchtenden Menschen zuzuhören und zu helfen. Und die Menschen erzählten. „Alles war spontan und frisch. Manche erzählten sofort ihre Geschichte – und ich wusste, diese Geschichten würden nie wieder so erzählt werden wie bei diesem ersten Mal.“ Svylynsky hatte kein Aufnahmegerät dabei und machte sich erst abends Notizen. „Ich merkte, dass jede Erzählung mindestens ein Wort enthielt, das seine ursprüngliche Bedeutung verloren und einen anderen Hintergrund erhalten hatte.“ Das kann auch tragikomisch klingen. Wie bei „Dusche“ und einem Mann namens Aleksandr: „Ständig beherrscht dich der Gedanke: Wenn wir jetzt beschossen werden, bin ich ein Kriegsopfer mit eingeseiftem Po.“

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