Grit Poppe liest Auszüge aus ihrem Buch "Weggesperrt"

In ihrem Buch greift Die Autorin die Umerziehungsversuche in DDR-Jugendwerkhöfen auf.

Grit Poppe liest Auszüge aus ihrem Buch "Weggesperrt"
Foto: dpa

Bonn. Anja ist ein normales Mädchen. So wie tausende 14-Jährige andere in der DDR. Der Ausreiseantrag ihrer Mutter verändert ihr Leben, macht aus dem Teenager eine nicht mehr gesellschaftsfähige Außenseiterin und beschert ihr die Hölle auf Erden:

hinter den Mauern des "Geschlossenen Jugendwerkhofes" in Torgau, der härtesten Disziplinierungseinrichtung der DDR-Jugendhilfe.

Anja ist nur fiktiv und die Heldin in Grit Poppes neuem Jugendroman "Weggesperrt" (Dressler Verlag, 330 S., 9,95 Euro). Trotzdem basiert das Fürchterliche, was die 14-Jährige erlebt, auf Realität.

Es geht in Poppes Jugendroman um schwere, aber lesenswerte Kost. Es geht um seelenlosen, militärischen Drill, um Isolationshaft, um den Verlust jeder Privatsphäre, um Kopfnüsse und Schläge mit dem Schlüsselbund, um 24-stündiges Redeverbot und Kollektivstrafen wie Liegestütze bis zur Ohnmacht, kurzum: um ein rechtloses Dasein.

Und das alles in einer Einrichtung der Jugendhilfe, gedacht für Mädchen und Jungen zwischen 14 und 18 Jahren.

Was sich für westliche Ohren nach der Fantasie eines Literaten anhört, ist gelebte Wirklichkeit im Arbeiter- und Bauernstaat gewesen. Deren Aufarbeitung ist Poppe wichtig.

Um ihren Kindern, die wie Protagonistin Anja Teenager sind, "die Abwesenheit von Demokratie in der DDR-Geschichte vor Augen zu führen", wie die Tochter des DDR-Bürgerrechtlers Gerd Poppe sagt.

Sogenannte "schwer erziehbare" und renitente Jugendliche sollten umerzogen werden. "Es langte, aufsässig in der Schule zu sein, um in die Mühlen der Jugendhilfe zu geraten", so die Potsdamerin.

Ihr Wissen beruht auf Gesprächen mit ehemaligen Insassen. Die Umerziehung geschah in einem der 70 "Spezialheime" der DDR-Volksbildung. Zu dieser Gruppe zählten neben 38 Spezialkinderheimen auch 32 Jugendwerkhöfe.

Von dort wurden unbotmäßige Jugendliche in die gefürchtete "Endstation" eingewiesen: Torgau.

Dort lautete der Auftrag an das Personal: Beseitigung "individualistischer Gerichtetheit", die der Staat als grobe Verletzung der gesellschaftlichen Ordnung ansah, erklärt Gabriele Beyler, Vorstandsvorsitzende der Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau.

"Die Umerziehung sollte durch strenge Disziplin, militärischen Drill und erzwungene Einordnung in das Kollektiv erreicht werden."

Die Initiativgruppe ist Träger der Gedenkstätte. Seit 1997 wird an dem historischen Ort, der dem Volksbildungsministerium unterstellt war, Aufarbeitung geleistet.

Dazu gehört eine neue Dauerausstellung unter dem Titel "Ich bin als Mensch geboren und will als Mensch hier raus!", die 20 Jahre nach der Schließung des Hauses am 7. November eröffnet hat; als bislang einzige Ausstellung für die Opfer des DDR-Erziehungssystems.

Deren Leidensweg spiegelt Poppes Romanfigur Anja wider. Weil sie die Willkür der Erzieher in einem normalen Jugendwerkhof nicht mehr erträgt, vergreift sie sich an einer Betreuerin und muss nach Torgau.

Dort erlebt sie das, was nach Poppes Recherchen merh als 4 000 Jugendliche zwischen 1964 und 1989 erlitten: Drangsal und Drill oft rund um die Uhr.

Ein zerstörerische, weil hilflose Situation für Anja. Wenn da nicht die zarte Liebe zu Tom wäre, einem anderen Insassen. Das lässt sie durchhalten. Anders als manch anderen, der sich in Torgau umbrachte. "Es gab ständig Gedanken an Selbstmord", bestätigte eine Insassin Poppe.

Für sie war das System schlimmer als jedes reguläre Gefängnis in der DDR. Dass die tausenden ehemaligen Insassen der Jugendwerkhöfe mit dem Mauerfall praktisch aus der Wahrnehmung verschwanden, gehört für Poppe zu den großen Ungerechtigkeiten der Wende.

Ebenso, dass keiner der Verantwortlichen je zur Rechenschaft gezogen wurde.

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