Kommentar Konjunkturaussichten - Lok ohne Waggons

Deutschland bleibt Wachstumslokomotive in Europa. Dieses Bild wird gern bemüht, wenn es um die aktuellen Konjunkturaussichten geht. Die Bundesrepublik fährt vorneweg und zieht die anderen mit. Wirklich?

Geht es nach den Prognosen der Bundesregierung und der Wirtschaftsforschungsinstitute, läuft die Konjunktur in Deutschland in diesem Jahr tatsächlich mehr als stabil und wird im nächsten Jahr noch einmal kräftig anziehen. Dabei sind die Aussichten für die Unternehmen und die Perspektiven für den Arbeitsmarkt hervorragend. Reißen wir mit dieser Dynamik ganz Euroland aus dem Schlamassel? Wohl kaum. Es führt in die Irre, Deutschland isoliert zu betrachten.

Nach wie vor stecken viele Euroländer in einer schweren Staatsschuldenkrise. Die Sparprogramme haben Staaten wie Griechenland oder Spanien tief in die Rezession gedrückt, andere Volkswirtschaften wachsen kaum noch. Deutschland steht mit seiner positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Europa fast schon alleine da.

Es ist nicht zu erkennen, wie die angeschlagenen Länder vom Wachstum in Deutschland profitieren sollen. Im Gegenteil: Die Sparprogramme dämpfen dort die Inlandsnachfrage, die Unternehmen haben Schwierigkeiten, an Kredite zu kommen, viele Branchen verlieren weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Die vor Kraft strotzenden deutschen und andere nordeuropäische Konkurrenten drücken ihre Wettbewerber in Südeuropa nur noch weiter an die Wand. Hinzu kommt: Tausende hoch qualifizierte Fachkräfte verlassen mangels beruflicher Perspektiven die Schuldenstaaten in Richtung Norden. In Athen sind die Deutschkurse am Goethe-Institut ausgebucht, Portugiesen strömten auf Presseberichte hin in Scharen nach Baden-Württemberg. Die Schuldenstaaten bluten aus.

Auf europäischer Ebene spielt sich ab, was auch in Deutschland selbst schon lange Realität ist: Wirtschaftlich starke Regionen ziehen immer mehr Menschen an und werden immer stärker, strukturschwache Regionen verlieren immer weiter. Und diese Entwicklung ist für die starken Regionen nur auf den ersten Blick positiv. Denn am Ende werden die Schwachen einen Ausgleich fordern.

Aussagekräftiger als die Konjunkturprognosen für Deutschland sind deshalb die Erwartungen für Europa. Und da sieht es nicht gut aus: Die Weltbank hat Mitte Januar wegen der Staatsschuldenkrise ihre Prognose für die Euro-Zone drastisch reduziert. Statt eines Wachstums von 1,8 Prozent erwartet sie 0,3 Prozent Minus. Das bedeutet Rezession.

Die Lokomotive Deutschland zieht die anderen nicht mit, sondern fährt ohne Waggons. Die sind abgehängt und rollen nach hinten weg. Das birgt jede Menge politischen Zündstoff.

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