Chaos gehört in Athen zum täglichen Leben

Knapp ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen gleicht die griechische Metropole einer riesigen Baustelle - Probleme an allen Ecken und Ende - Verkehrschaos ist programmiert

  Michael Scharf.

Michael Scharf.

Foto: Friese

Bonn. Knapp elf Monate bleiben noch Zeit, bevor am 13. August 2004 in Athen die XXVIII. Olympischen Sommerspiele eröffnet werden. Doch wer sich heute als Besucher der griechischen Fünf-Millionen-Metropole anvertraut, kann sich kaum vorstellen, wie auf dieser Riesenbaustelle in gut 300 Tagen 10 500 Sportler aus 202 Ländern in 301 Konkurrenzen um Medaillen kämpfen sollen.

Michael Scharf, der geschäftsführende Vorsitzende des größten Bonner Sportvereins, der Schwimm- und Sportfreude (SSF), und in Personalunion Damen-Bundestrainer der deutschen Modernen Fünfkämpfer, jedenfalls ist "sehr erschrocken über den Ist-Zustand".

Eine Woche lang war Scharf mit der Juniorinnen-Nationalmannschaft in dem Moloch unterhalb der Akropolis - seine Erlebnisse deuten eher darauf hin, dass die erwarteten fünf Millionen Besucher bestenfalls "Spiele der Improvisation" erleben werden. "Als Problem sehe ich dabei die Mentalität der Griechen an. Ich habe die Befürchtung, dass sie ihre Leistungsfähigkeit überschätzen", meint der SSF-Chef.

Beispiele, wo es im Moment in Athen noch am meisten hakt, hat Scharf viele zur Hand. Am Besorgnis erregendsten stellt sich für ihn die Verkehrssituation dar. "Diese Stadt ist trotz öffentlicher Verkehrsmittel - wenn sie denn überhaupt bis zum nächsten Jahr fertig ausgebaut werden - zwischen sechs Uhr morgens und 22 Uhr abends nicht zu befahren. Um die 15 Kilometer vom Schwimmstadion zur Reitanlage zu bewältigen, haben wir eineinhalb Stunden gebraucht", erzählt Scharf von seinen persönlichen Erlebnissen.

Zwar ist auf allen öffentlichen Karten eine U-Bahn-Station "Irini" eingezeichnet, die die Innenstadt mit den Austragungsorten verbinden soll - doch die existiert bislang nur auf dem Papier. "Es gibt diese Station de fakto nicht", so Scharf.

Zudem ist erst ein Sechstel des geplanten Straßennetzes fertig gestellt worden. Auf den letzten Kilometern der Autobahn vom Flughafen in die Stadt ist die Straße auf den ersten Blick gut ausgebaut. Nur verlassen kann man sie nicht, die Ausfahrten gibt es nämlich nicht.

Das größte Problem der beauftragten Bauunternehmen: Die ganze Innenstadt ruht auf Stätten der Antike, auf öffentlichem Grund kann nicht mal ein Loch gebuddelt werden, ohne Archäologen hinzuziehen zu müssen. Endlose Verzögerungen sind programmiert.

Nahezu profan erscheinen da die Probleme am neu gestalteten Athener Flughafen. "Es gibt dort ganze zwei Toiletten, die etwa einen Kilometer auseinander liegen. Und die sind beide so winzig, dass die Annahme, sie könnten einem Olympia-Ansturm standhalten, schon sehr mutig ist", schmunzelt Scharf.

Nun ist Chaos ein griechisches Wort und bedeutet so viel wie wüstes Durcheinander. Da diese Mentalität zur griechischen Lebensweise zu gehören scheint wie Sirtaki oder Retzina, äußern sich selbst höchste IOC-Mitglieder betont vorsichtig, wenn sie auf die Probleme in Athen angesprochen werden.

Am deutlichsten wird noch IOC-Vizepräsident Thomas Bach: "Nun beginnt in einem Hindernislauf der absolute Endspurt. Athen darf keine Sekunde mehr verlieren." Immerhin scheint es im Stadionbau voran zu gehen. "Das Olympiastadion ist nahezu fertig. Was fehlt, ist noch die Dachkonstruktion, doch das sollte bis August 2004 zu bewerkstelligen sein. Schlimmer sieht es bei den Arenen für Ringer und Gewichtheber aus. Kurz vor der Ende Oktober beginnenden Regenzeit ist auf den Rohbauten noch nicht mal ein Dach drauf", hat Scharf gesehen.

Von den Außenanlagen ganz zu schweigen: "Wenn die Griechen nicht kurz vor den Spielen überall Rollrasen auslegen und fertige Bäume und Sträucher pflanzen, wird alles grau und braun sein", fürchtet Scharf.

Am Ende werden die Griechen wohl auch diese Probleme in den Griff kriegen. Zur Not mit dem, was die Olympia-Beauftragte im Parlament, Fani Palli-Petralia, in einem ARD-Interview die griechische Geheimwaffe nannte: "Ich glaube, dass unser Stolz die Spiele retten wird. Am Ende werden wir großartige Spiele erleben."

Michael Scharf ist da skeptisch: "Ich kann nur hoffen, dass das IOC viele gute Aufpasser vor Ort hat. Sonst wird das nichts."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Berechtigte Ausgrenzung
Kein Platz für Müller im DFB-Team Berechtigte Ausgrenzung
Aus dem Ressort